Die Unternehmerin Verena Pausder empfängt uns in ihrem Berliner Zuhause. Sie spricht leidenschaftlich über digitale Bildung und sieht in diesem Bereich vor allem ein Umsetzungsproblem. Außerdem erklärt sie, wie Deutschland seine digitalen Defizite überwinden kann.
Die Ampel-Regierung will mehr Fortschritt wagen, in welchen Bereichen ist Fortschritt besonders nötig?
Bei Digitalisierung und Bildung. Natürlich sind auch Klimaschutz und andere Bereiche extrem wichtig. Aber bei der Digitalisierung klingt „Fortschritt wagen“ wie ein Euphemismus. Es geht nicht um Fortschritt „wagen“, sondern darum, einen riesigen Schritt nach vorne zu machen! Also darum, dass man endlich die Dinge umsetzt, die seit Jahren oder Jahrzehnten angekündigt werden.
Die FDP hatte sich für ein Digitalministerium eingesetzt. Für welche Aspekte des Fortschritts stehen Ihrer Meinung nach die anderen Parteien?
Die Grünen stehen hauptsächlich für Klimaschutz und Klimawende, und deswegen ist es ein gutes Signal, dass sie jetzt Teil der Regierung sind und die entsprechenden Ministerien führen. Nirgends sonst ist so klar, wofür eine Partei steht. Deswegen sind die Erwartungen auch hoch. Die FDP steht für Digitalisierung und Bildung, aber das muss sie jetzt in die Tat umsetzen. Bettina Stark-Watzinger als Bildungsministerin hat einen Gestaltungsanspruch und den braucht es jetzt. Bei der SPD habe ich noch kein klares Bild, was sie konkret erreichen will – auch weil Kanzler Scholz, völlig zu Recht, gerade zuallererst im Krisenmodus ist. Und die SPD hat es natürlich auch nicht leicht nach acht Jahren Juniorpartner in der GroKo.
Bildung und Kinder – was haben Sie in den zwei Jahren Pandemie darüber gelernt?
Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Denn die letzten zwei Jahre haben gezeigt: Wir brauchen schnelles Internet an den Schulen, Lehrkräftegeräte, E-Mail-Adressen für Lehrer:innen, Möglichkeiten, um mit Schüler:innen zu kommunizieren, die nicht im Klassenraum sind. Wir müssen bereit sein, unsere formalen bürokratischen Wege zu verlassen und zum Beispiel den Abrufmechanismus des Digitalpakts zu ändern, also zu vereinfachen. Denn wenn nach Jahren erst rund die Hälfte des Geldes abgerufen ist, ist das auch ein Zeichen, dass die Antragsstellung bisher zu kompliziert ist. Außerdem brauchen wir ein Bildungssystem, das mit- statt gegeneinander arbeitet, also ein Kooperationsgebot statt -verbot. Denn momentan ist unser Bildungssystem mittelmäßig, nicht chancengerecht und von gestern.
Wo sehen Sie die größten Defizite?
Bei den Zuständigkeiten. Als Schulleiter:in kann ich meine Lehrkräfte nicht selbst auswählen, Geräte nicht selbst bestellen, kann nicht selbst festlegen, wo der dringendste Bedarf besteht. Wieso haben Schulleiter:innen nicht mehr Autonomie und Freiheit? Sie kennen ihre Lehrer- und Schülerschaft doch am besten. Sie wissen, wo es hakt.
Was muss für einen nachhaltigen Fortschritt im Bildungsbereich passieren?
Erstmal Transparenz: Wo wollen wir hin? Wir haben bei unserem Wir-für-Schule-Hackathon 2021 gesagt: Wir erarbeiten ein Zielbild. Im Idealfall muss das in jedem Lehrer- und Klassenzimmer dieses Landes hängen. Wollen wir selbstbestimmtes Lernen, also mehr Verantwortung auf der Ebene der Kinder? Wollen wir mehr Freiheit der Schulleitung? Wollen wir digitalen Unterricht oder soll er nur im Notfall stattfinden? Wir müssen uns darauf einigen, wo wir hinwollen, dann die Maßnahmen definieren, wie wir dahin kommen, und sie nachhalten. Und dürfen sie nicht gleich ändern, wenn sich die Regierung ändert. Bildung ist ein langfristiges Thema und da brauchen wir eine Art „Gesellschaftspakt“.
Du kannst kein Update auf die Lehrkräfte spielen wie auf einen Computer.
Wie groß ist das Wissen der Politik im Bereich digitale Bildung?
Unterdurchschnittlich. Ich meine das nicht arrogant oder herablassend. Wenn es selbst in Ministerien kein WLAN gibt und sie nicht digital sind, wenn im Deutschen Bundestag immer noch alles ausgedruckt wird, dann hat die Politik selbst digitales Arbeiten noch gar nicht erfahren. Wie groß ist dann die Bereitschaft, sich über digitale Bildung Gedanken zu machen? Dabei gibt es so viel zu tun und zu klären: Wir sollten definieren, welche Tablets, Laptops und Software in Schulen verwendet werden dürfen, und sie zertifizieren. Dann kann man eine Art „Schul-App-Store“ einrichten, aus dem sich jede:r bedienen kann.
Während der Pandemie haben Sie gesagt, das sei eine historische Chance für die Bildung. Stichwort: Generalüberholung. Wie gut wurde diese Chance genutzt?
Jedem ist spätestens jetzt klar geworden: Das Fundament für digitale Bildung ist schnelles Internet an den Schulen. Das ist ein „Verdienst“ von Corona. Gleiches gilt für die Systemadministration vor Ort – die brauchen wir dringend und dass sehen wir jetzt. Es darf nicht passieren, das Geräte an Schulen „ausgekippt“ werden und niemand kann sie warten und managen. Wir brauchen IT-Hausmeister:innen. Aber das reicht noch nicht. Meine Sorge nach Corona ist, dass dann gesagt wird: „Jetzt haben wir zwei Jahre digitale Bildung gemacht, jetzt können wir wieder normalen Unterricht machen.“
Sie sind selbst Mutter. Wie haben Sie die Schulschließungen empfunden und wie sind Sie damit umgegangen?
Ich fand es sehr anstrengend. Für mich selbst, weil ich meinen Job nicht „on hold“ setzen konnte und auch weil die digitale Infrastruktur so versagt hat. Für meinen Mann und für die Kinder war es auch wahnsinnig anstrengend, weil es ja nicht digitale Bildung ist, sechs Stunden vorm Laptop zu sitzen und dort Einwegunterricht zu bekommen. Das ist analoger Unterricht über digitale Kanäle. Und wenn ich sage, wir fanden es schon anstrengend, muss man immer im Hinterkopf haben, dass wir hier über einen sehr privilegierten Haushalt reden. Statistiken haben gezeigt, dass der Unterricht über 2 Millionen Kinder gar nicht erreicht hat. Diese Kinder hatten auch weniger Bewegungsmöglichkeiten und seltener Eltern, die sich ihnen zuwenden konnten. Diese Überforderung in Familien hinterlässt Spuren.
Wie sollte man Lehrer:innen am besten ausbilden?
Du kannst kein Update auf die Lehrkräfte spielen wie auf einen Computer. Das ist ein langer Prozess. Glücklicherweise sind Online-Webinare während Corona einen Riesenschritt vorangekommen. Mittlerweile gibt es auch private Plattformen, die eingesetzt werden dürfen. Das ist die Grundvoraussetzung: Man muss lernen, den Unterricht so umzustellen, dass er nicht schlechter wird, sondern zeitgemäßer und die Lehrkräfte entlastet. So können sie wieder zu Lernbegleiter:innen werden.
Jeder hat ein Smartphone und die sammeln die meisten Daten. Der Saugroboter ist im Vergleich dazu harmlos.
In Ihrem Buch „Das Neue Land“ haben Sie viele Ideen zum Thema Bildungspolitik entwickelt. Warum ist es so schwierig, sie umzusetzen?
Weil es anstrengend ist. Du musst dir richtig die Hände schmutzig machen. Wir machen Bildungspolitik gerade aus dem Elfenbeinturm, sitzen an runden Tischen, protokollieren und treffen uns wieder. Es fehlen in der Bildungspolitik die Menschen, die etwas erreichen und umsetzen wollen.
Sie sagen: Die Umsetzung der Digitalisierung ist anstrengend. Kann unser Land das schaffen?
Nach zwei Jahren Pandemie ist kein Land in seiner vollen Kraft. Vor der Pandemie hätten wir alle Zutaten gehabt, haben aber den Druck nicht verspürt. Bei der Klimawende sagen die Wissenschaftler:innen: Es gibt einen Kipppunkt. Gäbe es einen Kipppunkt in der Bildungs- oder Digitalisierungspolitik, dann wäre der Druck da.
Reden wir über Grenzen der Digitalisierung und Anwendungen wie Navis und Staubsaugerroboter.
Ich bin early adopter, habe wenig Angst. Jeder hat ein Smartphone und die sammeln die meisten Daten. Der Saugroboter ist im Vergleich dazu harmlos. Digitale Souveränität bedeutet: Wir können uns entscheiden, kein Smartphone zu kaufen. Aber wenn wir am Fortschritt teilhaben wollen, die Geräte aber aus außereuropäischen Ländern mit minimalstem Datenschutz oder gar keinem kommen, dann können wir es aufgeben, an der Zukunft teilzunehmen. Die Alternative ist, dass wir selbst Dinge entwickeln, die auf unserem Datenschutz, unseren Werten und Prinzipien basieren. Das ist mir lieber als eine Retrogesellschaft, die weder Zukunft, Fortschritt noch die Möglichkeit auf Wohlstandserhaltung in ihr Leben lässt.
Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
Europäische Souveränität: Mit Blick auf die Rolle Europas vor der Pandemie, in der Pandemiebekämpfung und in der Lösung geostrategischer Konflikte ist die gemeine Erkenntnis, dass Europa keine große Rolle spielt. Ist es mit der Digitalisierung ähnlich?
Wir sollten nicht aufgeben, müssen aber schneller laufen. Nicht bei anderen abgucken und ein deutsches oder europäisches Facebook oder eine Cloud bauen, sondern vor der Welle sein. Wenn man weiß, mit IoT (Internet of Things, Anmerk. d. Red.) kommt ganz viel ans Netz, was bisher nicht smart war, müssen wir da ansetzen. Dazu bräuchten wir aber die Schnittstellen und Investitionen in KI in Europa.
Sie kommen gerade aus Ihrer Digital-Detox-Auszeit. Warum machen Sie das seit Jahren?
Einerseits um festzustellen, ob ich noch ohne Mails, WhatsApp und Social Media leben kann. Andererseits, weil dann einfach mal Ruhe ist und ich zwölf Bücher am Stück lese. Ich arbeite in dieser Auszeit auch, aber eher an der Frage: Welche Verena möchte ich sein? Diesmal sind drei Ichs dabei herausgekommen. Bildungsbotschafterin, Publizistin mit Meinung und Haltung und Gründerin.
Sie haben gerade eine Reihe neuer Beteiligungen angekündigt. Was sind Ihre Projekte? Und worin sehen Sie Ihren persönlichen Fortschritt in den nächsten Jahren?
Ich habe ein ungebrochen hohes Interesse zu sehen, wie es politisch weitergeht, auch wenn ich gerade nicht selbst aktiv mitmische. Die Europawahl 2024 ist für mich eine gute Gelegenheit zu überlegen, was könnte mein Beitrag sein? Außerdem suche ich eine Gründungsidee, bei der ich das Gefühl habe, ich möchte „all in“ gehen.
Das Gespräch führten Cara Seeberg und Cornelius Winter.
Verena Pausder ist Unternehmerin, Expertin für digitale Bildung und Gründerin von unter anderem „Fox & Sheep“, einem der größten Entwickler für Kinder-Apps in Deutschland. Sie setzt sich vor allem für chancengleichen Zugang für Kinder zu digitaler Bildung ein und initiierte während der Corona-Zeit den größten Bildungs-Hackathon in Deutschland. Zudem ist sie Autorin des Bestsellers „Das Neue Land“.