Wir treffen Pinar Atalay im RTL-Hauptstadtstudio. Die Moderatorin ist im Sommer 2021 von der ARD zum Kölner Sender gewechselt. Ihre erste Aufgabe war das Triell zur Bundestagswahl. Wir sprechen mit ihr über Krisen und Haltung im Journalismus und ihren persönlichen Werdegang.
Nach 16 Jahren Angela Merkel gibt es nun eine klare Zäsur, was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung, die sich das Wort Fortschritt auf die Fahnen geschrieben hat?
Der Krieg in der Ukraine hat alles verändert. War es nach der Ära Merkel vor wenigen Wochen noch eine politische Zäsur in Deutschland, ist es jetzt eine Zeitenwende – so wie es Bundeskanzler Scholz in einer historisch zu betrachtenden Sondersitzung des Bundestages beschrieb. Dadurch entwickelt sich der Fortschritt, den man sich vor und kurz nach der Regierungsbildung auf die Fahnen geschrieben hatte, imposant anders. 100 Milliarden für die Verteidigung, 200 Milliarden für Energie und Klima und all das ist wohl erst der Anfang. Alles muss neu gedacht werden und so ist es eine Bewährungsprobe für diese noch junge Dreierkoalition.
Die Bundesregierung musste innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen treffen, die teils wider ihre politische Natur stehen, die Gelerntes und Gesagtes in Frage stellen.
Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist ein heftiger Einschnitt und eine große Bewährungsprobe für die neue Bundesregierung. Es ist ein Krieg mitten in Europa. Wie nehmen Sie diese Zeitenwende und die Reaktion der Bundesregierung wahr?
Für uns Journalistinnen und Journalisten sind es herausfordernde Zeiten: Ein Krieg im 21. Jahrhundert, in Europa, nur zwei Flugstunden von uns entfernt. Wir berichten über das Leid, über die Kämpfe in den Straßen und über die diplomatischen Kämpfe der Politik – immer mit dem Wissen, welche Verantwortung auch wir tragen in diesen Zeiten. Gesicherte Informationen zu bekommen, keine Propaganda zu verbreiten und die Politik weiterhin zu hinterfragen, das ist unser Job. Gleichzeitig kommen viele Geflüchtete bei uns an, es wird eine neue Mammutaufgabe für die Städte und Kommunen. Die Bundesregierung musste innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen treffen, die teils wider ihre politische Natur stehen, die Gelerntes und Gesagtes in Frage stellen. Die Minister und Ministerinnen haben nur wenig Zeit, sich in ihre Rollen einzufinden, es herrscht eine Art Ausnahmezustand.
Sie haben das erste Kanzlertriell moderiert. Wie haben Sie die Kandidatin und die beiden Kandidaten wahrgenommen?
Das wirkt angesichts der aktuellen Lage so weit weg. Scholz wird als „Krisenund Kriegskanzler“ in die Geschichtsbücher eingehen. Baerbock als Außenministerin, die von einem Tag auf den anderen um den Frieden in Europa ringt. Damals beim Triell schien das noch wie aus einer anderen Welt. Wir hatten zwar über Außenpolitik gesprochen, es ging um Afghanistan, dabei hatte ich aber schon die Frage nach der Rolle Deutschlands in der Welt gestellt. Nun sind wir mittendrin. Um aber kurz auf diesen 29. August 2021 einzugehen, als Deutschland noch mitten im Wahlkampf war und wir bei RTL das erste Triell ausgerichtet haben: Ich habe bei allen dreien eine Grundanspannung wahrgenommen, was angesichts der besonderen Situation mit vielen Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern natürlich nicht verwundert. Sie sind hinter den Kulissen fair miteinander umgegangen, vor der Kamera war Olaf Scholz wenig überraschend, Armin Laschet auf Angriff gepolt und Annalena Baerbock hat versucht, den Streit zwischen den beiden Herren auszunutzen. Man merkte, dass jeder und jede einen Plan hat, wir haben sie aber natürlich auch herausgefordert.
Sie haben auch Angela Merkel lange journalistisch verfolgt. Was bleibt von diesen 16 Jahren?
Angela Merkel steht in den Augen vieler Menschen für Stabilität, aber auch für einen gewissen Stillstand und einige beginnen genau diese Art des Regierens zu hinterfragen. Allein deswegen ist es sehr spannend zu beobachten, wie nun ein anderer Kanzler führt.
Was erwarten die jungen Zuschauer:innen nun von der neuen Regierung?
Ich glaube, die junge Generation ist viel politischer geworden und macht sich zunehmend Gedanken darüber, welche Rolle Deutschland in der Welt spielen soll. Angesichts der aktuellen Lage in der Ukraine und der Angst vor einem noch größeren Krieg ist die Politik in einer noch größeren Verantwortung und wird sicher noch stärker von der jungen Generation wahrgenommen.
Was macht Journalismus hier bei RTL aus, wenn wir über eine jüngere Zielgruppe sprechen, geht es darum, Unterschiede deutlich zu machen, oder wollen Sie eher das Verbindende betonen?
Ohne Unterschiede gibt es keine Gemeinsamkeit. Das hört sich widersprüchlich an, aber man muss sich annähern können. Eine Demokratie lebt davon, dass wir diskutieren und Argumente austauschen. Eine Demokratie lebt aber auch von Journalist:innen wie mir, die Fragen stellen und Unterschiede deutlich machen. Ich bin Nachrichtenfrau, ich halte mich an die Fakten und konstruiere nichts. Wir wollen nicht sagen, dass etwas schwarz oder weiß ist. Wir wollen helfen, den Graubereich zu finden.
Ich glaube, die junge Generation ist viel politischer geworden und macht sich zunehmend Gedanken darüber, welche Rolle Deutschland in der Welt spielen soll.
Was haben Sie durch die Corona-Pandemie gelernt?
Zu Beginn der Pandemie habe ich bemerkt, dass ich zum ersten Mal als Journalistin auch auf diese extreme Art und Weise privat betroffen bin. Diese Krise war näher, wir waren alle im Krisenzustand. Die Bundesregierung begann, anders zu kommunizieren, die damalige Kanzlerin wurde auf einmal emotional und rief dazu auf, dass wir auf uns aufpassen sollen. Allerdings haben viele Politikerinnen und Politiker in der Kommunikation Fehler gemacht. Wenn Sie nicht mehr wissen, ob Sie in Bayern noch auf der Parkbank sitzen dürfen oder in Schleswig-Holstein noch das Geschäft betreten können, weil es schlecht kommuniziert wird und offenbar jeder gegen jede ist, wird das ein Problem, dass das Vertrauen in die Politik strapaziert.
Wie wichtig ist es, eine Vielzahl von Meinungen abzubilden?
Als Journalistin habe ich die Aufgabe, die Gegenposition zu sein, und das müssen wir auch bei Meinungen immer wieder zulassen. Wir hatten eine Corona-Sondersendung bei RTL, in der Helge Braun, Sahra Wagenknecht und der Lungenarzt Cihan Celik zu Gast waren. Die sind vollkommen anderer Meinung, aber das müssen wir zulassen und zeigen. Immer basiert auf Fakten, immer mit dem Versuch, einen Mehrwert zu bieten.
Sie haben mal gesagt, dass jedes Wort Gewicht hat. Wie reizvoll ist es zu arbeiten, wenn man immer abwägen muss?
Ich bin Spracharbeiterin und achte darauf, was ich eigentlich mit meinen Worten sage. Wenn ich in einem Interview mal nicht so gut formuliere, ärgert mich das im Nachhinein, ich reflektiere es. Das heißt aber nicht, dass ich nicht mehr offen spreche, ich bin mir aber über die Wirkung meiner Worte sehr bewusst.
Was ist für Ihre Arbeit entscheidender – Verantwortung oder Haltung bzw. Meinungsstärke?
Ich glaube, das eine geht nicht ohne das andere. Ich sehe mich als Nachrichtenjournalistin, die eine Haltung hat. Ich muss auch eine Haltung haben, die sollte aber nicht damit gleichgesetzt werden, dass ich meine Meinung kundtue. Wenn Sie sich mein Profil bei Twitter oder Instagram ansehen, werden Sie feststellen, dass ich dort nicht permanent die politische Lage beurteile. Ich habe aber eine Haltung, die kann man auch erkennen, egal ob ich RTL Direkt oder ein Triell moderiere.
Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht. In der Unterzeile heißt es „Wie ich es als Arbeiterkind ins deutsche Fernsehen schaffte“. Warum war es Ihnen wichtig, diesen Teil Ihrer Herkunft zu betonen?
Im Journalismus gibt es viele Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, aber wenn ich mich ein bisschen umgucke, bin ich häufig die Einzige, die nicht studiert hat und aus einem Arbeiterhaushalt kommt. Mir war dieser Weg nicht in die Wiege gelegt. Es geht mir dabei aber weniger um mich. Ich wollte mich in meinem Buch auch mit unseren Vorurteilen auseinandersetzen. Wie kommt es, dass man einem Kind aus einem sozioökonomisch schwierigen Haushalt weniger zutraut als einem Kind, dessen Eltern Akademiker sind?
Die Probleme müssen erkannt und benannt werden und dann sollte man so schnell reagieren, dass die Probleme sich nicht wieder über Generationen verschleppen.
Ihre Grundschullehrerin wollte Sie trotz guter Noten nicht auf das Gymnasium schicken, wie erklären Sie sich das?
Diese Lehrerin mochte mich und ich mochte sie auch. In ihrer Denke war ich ein Kind aus einem bildungsfernen Haushalt, was zusätzlich noch türkische Wurzeln hat. So ein Kind schickt man dann lieber auf die Haupt- oder Realschule. Bei meiner älteren Schwester war das so. Bei mir waren meine Eltern aber schon einen Schritt weiter und haben sich gewünscht, dass ich direkt auf das Gymnasium gehe, weil ich die gleichen Noten hatte wie die anderen Kinder. Das war fast eine kleine Revolution.
Sie haben nach dem Abitur eine Boutique eröffnet und sagen heute, dass Sie dafür belächelt werden. Wie erklären Sie sich das?
Ich werde darauf häufig angesprochen und spüre immer eine gewisse Überheblichkeit bei diesem Thema. Ich habe dort nicht den ganzen Tag Modezeitungen gelesen, sondern ein Geschäft geführt. Mich hat das unheimlich geprägt und ich bin froh darüber, dass ich das gemacht habe. Direkt nach dem Abi hatte ich die komplette Verantwortung für dieses Geschäft.
Welcher Fortschritt wäre nötig, damit Ihr Lebensweg keine Ausnahme mehr ist?
Ich habe schon vor 30 Jahren gehört, dass man Kinder aus sozial schwächeren Familien besser fördern sollte, aber eine optimale Lösung gibt es dafür heute noch nicht. Die Probleme müssen erkannt und benannt werden und dann sollte man so schnell reagieren, dass die Probleme sich nicht wieder über Generationen verschleppen.
Fortschritt ist hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wie gelingt es, dass hier jeder und jede mitzieht?
Mein Buch hat den Titel „Schwimmen muss man selbst“. Manchmal ist es richtig, ins kalte Wasser geworfen zu werden. Ich muss dann schwimmen. Das kann ich im Zweifel aber nicht allein: Ich brauche einen Schwimmlehrer. Wenn mir meine Eltern bei etwas nicht helfen konnten, habe ich die Nachbarin gefragt oder die Eltern von meinen Freunden. Nachbarschaft und Vereine können unglaublich hilfreich sein. Jeder hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Erfahrungen. Wir sind alle auf irgendeine Art anders und unterschiedlich. Wir sind keine homogene Gesellschaft und das ist gut. Wir sollten aber versuchen miteinander auszukommen und uns zu helfen. Das finde ich fortschrittlich.
Ich bin hier geboren und groß geworden. Ich bin Deutsche mit türkischen Wurzeln. Für mich ist das völlig normal. Für meinen Alltag war es viel prägender, dass ich ein Arbeiterkind bin.
Wenn Sie eine Funktion übernommen haben, wird Ihre türkische Herkunft meistens thematisiert. Wann wird das in Deutschland keine Rolle mehr spielen?
Ich bin hier geboren und groß geworden. Ich bin Deutsche mit türkischen Wurzeln. Für mich ist das völlig normal. Für meinen Alltag war es viel prägender, dass ich ein Arbeiterkind bin. Das hat mir durch Vorurteile und aus finanziellen Gründen mehr Schwierigkeiten bereitet. Als ich zu RTL gewechselt bin, wurde meine Herkunft in keiner Pressemitteilung und in keinem Artikel mehr thematisiert. Wobei ich es auch wichtig finde, sich bewusst zu machen, für die nachfolgenden Generationen, dass mein Weg noch immer nicht der gewöhnliche ist. Am schönsten wäre es aber, wenn die Herkunft irgendwann kein Thema mehr ist.
Was wäre für Sie der schönste Fortschritt in den kommenden Jahren?
Das hört sich vielleicht pathetisch an, aber derzeit wünsche ich mir vor allem friedliche Zeiten für uns alle. Und insgesamt wünsche ich mir für unsere Gesellschaft, dass wir uns trotz aller Schwierigkeiten versöhnlich in die Augen schauen und nicht von einer Spaltung sprechen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam aus unseren Fehlern lernen und im Gespräch bleiben.
Das Gespräch führten Stephan Kittelmann und Cornelius Winter.
Pinar Atalay volontierte bei Radio Lippe. Es folgten verschiedene Stationen beim WDR, dem NDR und Phoenix. Sie moderierte hier unter anderem die „phoenix Runde“, das ARD-Wirtschaftsmagazin „plusminus“ und die NDR-Hauptnachrichten. Von 2014 bis 2021 präsentierte sie die ARD-„tagesthemen“. Seit August 2021 ist Pinar Atalay als Journalistin und Moderatorin für RTL tätig. Sie moderiert unter anderem die Sendungen „RTL Direkt“ und „RTL Aktuell“.