Ein Streitgespräch unserer Kolleg:innen Verena Bitter und Raphael Weißbach
Digitale europäische Souveränität ist das selbsterklärte Ziel der EU-Kommission sowie der EU-Mitgliedstaaten. Auch die Bundesregierung verfolgte dieses Konzept während ihrer Ratspräsidentschaft mit Nachdruck. Auf europäischer, wie nationaler Ebene werden in den nächsten Jahren zahlreiche legislative und technologische Initiativen folgen, die diesen Anspruch untermauern sollen. Jüngste Beispiele sind der Digital Services Act, der Digital Market Act sowie das Cloudprojekt Gaia X. Höchste Zeit, sich mit der Idee digitaler Souveränität aus Public Affairs-Perspektive genauer zu beschäftigten und die verschiedenen Standpunkte dazu kennenzulernen.
- Was bedeutet digitale Souveränität?
Raphael: Das Verständnis der Bundesregierung von digitaler Souveränität klang lange Zeit nach eigener Entwicklung von Technologieoptionen und damit ein wenig nach digitaler Autarkie. Inzwischen werden europäische Werte und offene Standards immer stärker betont. Eine weitere Definition von digitaler Souveränität ist in der Abgrenzung zu den USA einerseits und China andererseits begründet. Dieser vermeintlich souveräne, europäische Weg findet seinen besonderen Ausdruck in der KI- und Datenpolitik sowie in der Plattformregulierung.
Verena: Meiner Meinung nach bedeutet Digitale Souveränität eben nicht, sich komplett unabhängig – also autark – zu machen, sondern dass über Abhängigkeiten im digitalen Raum selbstbestimmt entschieden werden kann. Ich denke auch nicht, dass die politischen Stakeholder in Berlin und Brüssel dieses Ziel formulieren. Das ist eine Überspitzung, die v. a. von Gegnern des Konzepts angestellt wird. Digitale Souveränität heißt zum einen, dass es Alternativen geben muss zu den wenigen dominanten Tech-Konzernen, von deren Infrastruktur und Services Unternehmen und Nutzer:innen vielfältig abhängig sind. Das muss auch bedeuten, dass Nutzer:innen in Europa eine bewusste Entscheidung treffen können, unter welchen Bedingungen sie in Abhängigkeiten eintreten, z. B. darüber was mit den eigenen Daten passiert. Es bedeutet auch, dass alle Bürger:innen in der Lage sind, mit digitalen Technologien umzugehen und diese zielgerichtet einzusetzen. Das ist eine Frage der digitalen Kompetenz.
- Ist digitale Souveränität eine zukunftsfähige europäische Vision oder doch nur Utopie?
Raphael: Ganz klar Utopie. Digitale Souveränität in Bereichen zu erlangen, in denen die EU weit zurückliegt, ist meiner Meinung nach gar nicht mehr möglich und eine Wunschvorstellung! Die EU kann sich nicht einmal darauf einigen, was sie unter digitaler Souveränität versteht. Wenn Souveränität Protektionismus heißt, steht diese Idee im klaren Widerspruch zum europäischen Ideal von Freihandel und offenen Grenzen – wobei es auch in der europäischen Agrarpolitik Protektionismus gibt. Die Debatte ist für mich in erster Linie ein Ablenkungsmanöver, das darüber hinwegtäuschen soll, dass der Politik auf deutscher und europäischer Ebene in der Vergangenheit die Entschlossenheit fehlte, die Digitalisierung konsequent voranzutreiben. Das scheint sich jetzt langsam zu ändern.
Verena: Mit digitaler Souveränität findet Europa endlich seine Vision, welche Rolle man digitalpolitisch in der Zukunft spielen will. Klar, es ist unrealistisch, dass wir Europäer:innen zeitnah in einer Welt ohne Google, Amazon und Facebook leben oder es gleichwertige europäische Alternativen gibt, das Argument ist zu einfach! Man kann aber auf jeden Fall die Abhängigkeit von diesen Akteuren minimieren. Es stimmt zwar: Hier haben die Politik und auch die europäischen Unternehmen Chancen verpasst, doch da wo es geht, holen sie nach. An anderen Stellen müssen die politischen Stakeholder in Brüssel zusammen mit den Mitgliedstaaten regulatorisch europäische Werte durchsetzen. Die Content-Regulierung durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) und Digital Services Act (DSA) wird m. E. nach nur der Anfang sein. Weitere Schritte werden folgen, damit dominante Plattformen künftig nicht mehr selbst über die Spielregeln entscheiden können.
- Welche Bedeutung hat digitale Souveränität für die unterschiedlichen Branchen und Unternehmen in Europa?
Verena: Die großen Gewinner digitaler Souveränität sind zunächst einmal europäische Hersteller und Unternehmen. Auf einmal wächst wieder Interesse an „Tech made in Europe“. Man darf das aber nicht romantisieren. Denn es gibt auch gute Gründe, wieso heute kaum noch jemand ein Nokia-Handy kauft. Zudem sind auch unsere heimischen Unternehmen auf Fortschritte wie den Ausbau von 5G angewiesen. Damit dieser ohne Huawei möglich wird, muss weiter in heimische Unternehmen und technologische Innovationen investiert werden. Auch hier profitieren wieder die europäischen Unternehmen.
Raphael: Da muss man aber differenzieren! Digitale Souveränität betrifft Hard- und Softwarehersteller nicht gleichermaßen. Während europäische Hardwarehersteller oftmals auf viele Vorprodukte außerhalb der EU angewiesen sind – z.B. Chips –, finden Softwareunternehmen nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland bzw. der EU. EU-Kommission und Rat werden wohl darauf abstellen, wo die Produkte/Ideen entwickelt werden und welchem Rechtskreis Unternehmen unterliegen. Insbesondere europäische Software-Unternehmen müssen noch weitere Herausforderungen lösen: Datenverfügbarkeit ist beispielsweise in vielen Bereichen ein Problem. Damit verknüpft sind auch Fragen des Datenschutzes, der Datenlokalisierung und Datenweitergabe. Hier hat die EU mit der Datenschutzgrundverordnung, Free-Flow-Of-Data-Verordnung und dem Data Governance Act bereits wichtige Schritte unternommen. Der Digitale Binnenmarkt soll auch den freien Datenfluss innerhalb der EU miteinschließen – er ist jedoch noch immer nicht vollendet.
- Wird europäische digitale Souveränität die Beziehungen der EU zu unseren Handelspartnern, besonders China und den USA, nachhaltig negativ beeinflussen?
Raphael: Ja, das kann gefährliche Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen haben. Der Fall Huawei ist das beste Beispiel für die zunehmende Geopolitisierung von Technologiepolitik, ein weiteres Beispiel ist TikTok. Die EU ist gut beraten, wenn sie weder mit China noch mit den USA einen Handelskrieg vom Zaun bricht und damit zu protektionistischen Mitteln greifen würde – wie z.B. China und die USA. Auch Präsident Biden wird in dieser Angelegenheit kein einfacher Gesprächspartner sein. Lediglich der Ton wird sich ändern. Anstatt immer wieder digitale oder technologische Souveränität zu betonen, sollten die EU und Deutschland rhetorisch abrüsten. Auf lange Sicht wird nämlich die EU noch von beiden Partnern abhängig sein.
Verena: Es ist doch offensichtlich, dass sich Europa im Handelskrieg zwischen den USA und China zwischen den Fronten befindet. Digitale Souveränität ist eine Reaktion auf die Politik in Washington und Peking. Dass die Lage damit nicht einfacher wird, darf die EU nicht in eine Schockstarre treiben. Entscheidend ist für Europa die Integrität des Binnenmarkts, d.h. man muss sich auf gemeinsame Standards einigen und diese selbstbewusst gegenüber anderen Ländern verteidigen
- Was bedeutet digital Souveränität für die Public Affairs Arbeit und politische Kommunikation von Unternehmen?
Verena: Europäische Digital-Unternehmen haben in der Debatte sicherlich einen Heimvorteil, den sie kommunikativ nutzen sollten. Das muss dann aber auch mit konkreten Vorhaben einhergehen, die Unternehmen sollten also ihren Teil zur Souveränität beitragen. Amerikanische und insbesondere chinesische Unternehmen müssen nun noch diplomatischer mit der deutschen und europäischen Politik kommunizieren und ein stimmiges Kommunikationskonzept entwickeln, um Schaden durch die wachsende Skepsis gegenüber nicht-europäischer Technologie abzuwenden.
Raphael: Digitale Souveränität hat für Unternehmen unterschiedliche Implikationen, die sich auch in der Kommunikation widerspiegeln sollten. Im Wesentlichen sollten sich Unternehmen danach richten ob sie a) ein nicht-europäisches Unternehmen sind; amerikanische oder chinesische Firmen sind ein Spezialfall; b) sie ein großes europäisches Unternehmen sind; Stichwort „European Champion“ oder „KI-Airbus“; oder c) sie ein europäisches aufstrebendes Start-Up bzw. ein kleiner Mittelständler sind, ein sogenannter „Hidden Champion“. Sie sollten abhängig von den eigenen PA- und Kommunikationsstrukturen, der Verflechtung mit europäischen und nicht-europäischen Absatzmärkten sowie der Investorenstruktur entscheiden, ob „Digitale Souveränität“ proaktiv oder reaktiv kommuniziert wird. Nicht zuletzt spielt auch die Unternehmenskultur eine wichtige Rolle und die Frage, inwiefern das eigene Geschäftsmodell von digitaler Souveränität beeinträchtigt werden oder profitieren kann.
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