Von Alisa-Elaine Schellenberg

Als Alec Ross im Sommer 2009 zum Hörer griff, war dies gleich in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich. Er handelte als Mitarbeiter im US State Department ohne Rückendeckung der politischen Leitung. Und er rief bei einem Unternehmen an, das fürs Folgen und Zwitschern, aber nicht fürs Telefonieren bekannt ist – die Rede ist natürlich von Twitter. Was war geschehen?

Kurz nach den Präsidentschaftswahlen in Iran gab es heftige Proteste gegen das Wahlergebnis. Über 62 Prozent für den Hardliner Mahmud Ahmadinedschad – das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, die Opposition witterte Wahlbetrug. Es folgten politische Proteste, die maßgeblich durch den Gebrauch von Twitter, Facebook und YouTube beeinflusst wurden. Auf diesem Weg verbreiteten die Oppositionellen ihre Forderungen – und verschafften sich dadurch internationale Anerkennung. Es schien, als rollte eine Welle der politischen Veränderung durch das autoritär geführte Land. Doch diese Welle drohte ausgerechnet von Twitter gebrochen zu werden: Twitter hatte Wartungsarbeiten angekündigt, stunden- oder tagelang wäre der Social Media-Kanal lahm gelegt worden. Das zentrale Sprachrohr der Oppositionellen wäre verstummt – da schlug die Stunde von Alec Ross.

Als erster Berater für Innovation im Stab der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton überzeugte Alec Ross das Unternehmen Twitter, die Wartung zu verschieben, um die politischen Auseinandersetzungen in Iran nicht im Keim zu ersticken. Ross handelte schnell und ohne seine direkte Vorgesetzte, Hillary Clinton, darüber zu informieren. Einige Mitarbeiter in Clintons Stab waren aufgebracht: Die Instrumentalisierung eines sozialen Netzwerks war bis dato keine gelernte Form im diplomatischen Verkehr. Für Ross wurde umgehend ein Disziplinarverfahren gefordert. Hillary Clinton hingegen ließ ihren jungen Mitarbeiter gewähren und setzte ein deutliches Zeichen für ein neues Instrument in den Außenbeziehungen: digitale Diplomatie.

Inzwischen ist also auch diese Bastion der analogen Politikwelt genommen. Und man reibt sich die Augen: Diplomatie – das ist das Refugium der leisen Zwischentöne unter vier Augen. Twitter – das ist das laute Geschrei für ein Massenpublikum, die ideale Bühne für die Donald Trumps dieser Welt. Und trotzdem ist Digitale Diplomatie inzwischen ein unübersehbares Trendwort in den internationalen Beziehungen geworden, jeder Tweet und jeder Post erscheint als diplomatischer Staatsakt.

Für Clintons Nachfolger John Kerry ist der Begriff sogar schon wieder überflüssig: „The term digital diplomacy is almost redundant – it’s just diplomacy, period.“ Diplomatie und Dialog fänden längst im Digitalen statt. Diese Tatsache mit einem Modewort zu versehen, sei wie Eulen nach Athen zu tragen. Digital Diplomacy ist längst ein feststehender Begriff für die Idee, diplomatisch mit ausgewählten Zielgruppen im Digitalen zu kommunizieren, um ein Ziel zu erreichen.

Die Diplomatie ist nur ein weiteres Feld der politischen Kommunikation, das sich den sozialen Netzwerken geöffnet hat. In politischen Kampagnen und Wahlkämpfen fließt immer mehr Budget in die Social Media-Kommunikation, auch die Sprecher der Bundesregierung kommunizieren nach anfänglichem Gemaule der Hauptstadtjournalisten regelmäßig über Twitter. Politiker können sich den Verzicht auf eigene Facebook- und Twitter-Accounts kaum noch erlauben. Der Facebook-Auftritt von Frank-Walter Steinmeier (SPD) gilt mit über 130.000 Likes und täglichen Meldungen und Fotos aus dem Arbeitstag eines Außenministers als einer der Besten der Bundesregierung. Das Auswärtige Amt selbst kommunizierte nach dem Brexit an über 160.000 Follower: „Was für ein Tag! Wir gehen jetzt jedenfalls in einen irischen Pub und betrinken uns. Ab morgen arbeiten wir dann wieder für ein besseres ‪#‎Europa. Versprochen!“ Authentischer kann digitale Diplomatie wahrscheinlich nicht stattfinden. Laut Wahlbeobachter Martin Fuchs hatte der Tweet des Auswärtigen Amtes innerhalb von 16 Stunden auf Facebook über 2,3 Millionen Nutzer erreicht und auf Twitter eine Reichweite von einer Million erzielt. Auch für Parteien ist die direkte Kommunikation über soziale Netzwerke inzwischen ein etabliertes Instrument. So hat die Facebook-Seite der Grünen zum Beispiel im vergangenen Jahr laut Fuchs über eine Million Interaktionen mit Facebook-Nutzern generiert.

Die Genese der Digitalen Diplomatie führt zurück in die USA. „21st Century Statecraft“ – so nannte Hillary Clinton ihre umfassende Agenda zur Modernisierung der US-amerikanischen Diplomatie. Eines ihrer Ziele: die internationale Zuammenarbeit durch digitale Informationsnetzwerke beschleunigen und verbessern und so einen multilateralen Austausch ermöglichen.

Die Treiber hinter diesem Vorhaben waren als jüngstes Mitglied des State Departments der damals 28-jährige Jared Cohen und eben der bereits erwähnte Alec Ross. Sie entwickelten ein strategisches Narrativ, um die Verwendung von Digital Diplomacy zu erklären. Ein strategisches Narrativ ist laut Prof. Alister Miskimmon von der Royal Holloway, University of London nötig, um in den internationalen Beziehungen etwas zum Thema zu machen und innerhalb einer Zielgruppe eine Haltung zu diesem Thema zu prägen. Es ist ein Gesprächsthema, das so einprägsam ist, dass Menschen es sofort verstehen und gerne weitertragen.

Cohen und Ross entwickelten also ein strategisches Narrativ, welches drei engmaschig verknüpfte Ziele verfolgte: Erstens, die Erschaffung einer digitalen Kommunikationsstruktur, um in einen digitalen Dialog mit zivilen Öffentlichkeiten treten zu können. Zweitens, die Etablierung des State Departments bei den Gatekeepern dieser digitalen Kommunikationsstruktur in Unternehmen wie Twitter, Google und Facebook. Drittens, die Legitimation der USA als Ermöglicher digitaler diplomatischer Diskurse und Antagonist digitaler Restriktionen. Cohen und Ross wählten für ihr strategisches Narrativ die Begriffe Freiheit, Demokratie und Innovation; jene drei Begriffe, die bis heute eng mit unserem politischen Verständnis von digitalen sozialen Netzwerken verknüpft sind.

Alec Ross’ Einsatz für die Demokratiebestrebungen in Iran war nach genau diesem strategischem Narrativ ausgerichtet: Freiheit den Bürgern, Demokratie statt Restriktion und Innovation durch soziale Netzwerke. Es geht also nicht nur um die Kommunikation der eigenen Inhalte, sondern auch darum, zivilen Öffentlichkeiten – wie den Iranern nach der Wahl – die Möglichkeit zur digitalen Kommunikation zu geben. Was Digital Diplomacy bewirken kann, wurde ein Jahr nach den Ereignissen in Iran umso deutlicher während des durch Twitter, Facebook und YouTube angeheitztem Arabischen Frühling. Spätestens seitdem ist international bekannt, dass die sozialen Netzwerke die Reichweite von gewählten Politikern zwar erhöhen, aber auch die Macht der Bürgerinnen und Bürger stärken. Digital Diplomacy ist nicht nur ein Meilenstein für die unaufhaltbare Digitalisierung der politischen Kommunikation, sondern auch ein großer Schritt hin zu mehr Teilhabe und Demokratie. Digital und analog.

Die sozialen Netzwerke respektieren keine Refugien, nichts ist ihnen heilig, selbst vor der ehrwürdigen und stilbewussten diplomatischen Kunst machen sie nicht Halt. Sie sind machtvolle Instrumente, wenn man sie klug zu nutzen weiß. Wer heute politische Kommunikation betreibt, ob im Wahlkampf, in der Öffentlichkeitsarbeit oder eben in der Diplomatie, sollte in der Lage sein, sich kurz zu fassen – 140 Zeichen müssen reichen.
 

Alisa-Elaine Schellenberg ist seit 2013 studentische Mitarbeiterin bei den 365 Sherpas. Sie hat einen Bachelor in Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (UdK Berlin) und absolviert derzeit ein Masterstudium in „Politics & Communication“ an der London School of Economics. Schwerpunkte ihres Studiums sind politische Kommunikation und Public Policy.
Im April 2016 hat Alisa-Elaine Schellenberg als Delegierte für Wirtschaft und Technologie am Youth-7-Gipfel im Rahmen des diesjährigen G7 in Japan teilgenommen.

 

Quellen

Fuchs, M. (2015). Es muss knallen: Wie die Grünen Millionen Menschen über Facebook direkt erreichen. Retrieved from https://www.hamburger-wahlbeobachter.de/2015/08/es-muss-knallen-wie-die-grunen.html am 29.06.2016

Gustin, S. (02.09.2011). Game Changers. Time. Retrieved April 25, 2016, from https://content.time.com/time/specials/packages/article/0,28804,2091589_2091591_2091592,00.html am 08.05.2016

Kerry, J. (06.05.2013). Digital diplomacy: Adapting our diplomatic engagement. Retrieved from https://blogs.state.gov/stories/2013/05/06/digital-diplomacy-adapting-our-diplomatic-engagement am 24.04.2016

Miskimmon, A., O’Loughlin, B., & Roselle, L. (2014). Strategic narratives: Communication power and the new world order. United Kingdom: Routledge.

Metzger, E. T. (2012). Is it the medium or the message? Social media, American public relations & Iran. Global Media Journal. 2012.

Miskimmon, A., O’Loughlin, B., & Roselle, L. (2014). Strategic narratives: Communication power and the new world order. United Kingdom: Routledge.

Ross, A. (2009, December 17). U.S. Diplomacy in the age of Facebook and Twitter: An address on 21st century Statecraft. Retrieved from https://www.state.gov/s/c/remarks/135352.htm am 25.04.2016

 

Bild: mkhmarketing. 2011