Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus war kein Trendsetter für die Bundespolitik – umgekehrt wird ein Schuh draus: In Berlin haben sich wie unter dem Brennglas Tendenzen gezeigt, die ihren Ursprung auf der Bundesebene haben und die uns dort noch länger in Atem halten werden.

Ein paar Tage hatten wir nun Zeit, es sacken zu lassen, dieses von vielen bereits als wegweisend bezeichnete Volksparteienzerstörungsergebnis der Berliner Abgeordnetenhauswahl. „Volksparteien ohne Volk“ – so jedenfalls hieß gefühlt jede politische Talkshow der vergangenen Woche. Die (partei-)politische Tektonik der Bundesrepublik verschiebt sich und, na klar, die Hauptstadt ist ganz vorne mit dabei. Wir haben schließlich auch als erste Club Mate getrunken, wir waren die ersten, die so angesagt waren, dass sie eine Zweckentfremdungsverbotsverordnung brauchten und wenn es darum geht, neue Startups in alte Hinterhöfe zu locken, dann sind wir auch Vorreiter. Warum also sollte nicht gerade hier eine Republik ausgerufen werden, in der es politisch nicht mehr groß und klein, sondern nur noch so mittel gibt? In der wir das Parteienangebot eher nach Tagesform (unserer eigenen und der des politischen Spitzenpersonals) bewerten und nicht mehr nach breiten und homogen dahinterstehenden Wählermilieus. Jeder kann mit (fast) jedem, heute hier, morgen dort, alles kann, nichts muss. Klingt in einer individualisierten Erlebnisgesellschaft gar nicht so übel, oder?

Allerdings gibt es da ein kleines Problem: Dieses Berliner Wahlergebnis sieht zwar so aus wie eine sorgfältig geschnittene Pizza, es ist aber nur auf den ersten Blick ein Spiegelbild unserer fragmentierten Stadtgesellschaft. In Wahrheit haben die Berlinerinnen und Berliner am 18. September eine Art alte Vertrautheit gewählt. Vertrautheit von Gut und Böse, von Ihr und Wir, von richtig und falsch. Vertrautheit im Sinne der Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen und sich nicht erst lange darüber Gedanken machen zu müssen, dass entweder alle Seiten gleich sind oder dass es einfach zu viele Seiten gibt. Und das hat dann tatsächlich mit der Bundespolitik, mit der generellen Stimmung in diesem Land zu tun. Aber der Reihe nach.

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller ist in diesem Wahlkampf mit zwei Metaaussagen angetreten: Erstens, gute Politik hat mehr mit gutem Handwerk zu tun als mit guter Selbstdarstellung (die Postheroismus-Aussage) und zweitens, Berlin ist eine tolle Stadt und soll deshalb weitgehend so bleiben, wie sie ist (die „Berlin bleibt“-Aussage). Beide Aussagen – so ehrlich muss man das Ergebnis der SPD schon bewerten – haben nicht wirklich verfangen. Schauen wir sie uns beide einmal genauer an.

Die Postheroismus-Aussage

Die Postheroismus-Aussage ist nicht neu, die Bundeskanzlerin ist seit jeher eine Meisterin auf diesem Feld. Nur war die Aussage bei Merkel erstens (und anders als bei Müller) von Beginn an strategisch geplante und professionell umgesetzte Camouflage und zweitens scheint die Zeit für diese Aussage generell vorbei zu sein.

Warum Camouflage? Angela Merkel hat früh erkannt, dass die Deutschen nach der heldenhaften Basta-Ära eines Gerhard Schröder und eines Joschka Fischer von der Politik vor allem geräuschlose und unideologische Problemlösung statt lauter und polarisierender Problemzuspitzung erwarteten. Teflon statt klare Kante. In der Organisationssoziologie heißt das „postheroisches Management“: „Unternehmen können nicht mehr von der Spitze her geführt werden, sondern Unternehmen führen sich selbst aus der Mitte heraus oder noch präziser gesagt, sie führen sich vom Markt her, also von außen her.“[1] Die Abschaffung der Wehrpflicht, der Ausstieg vom Ausstieg aus dem Atomausstieg nach Fukushima und die kompromisslose Austeritätspolitik in der Eurokrise – all das war ja nichts anderes als Führung vom (Wähler-)Markt her. Jürgen Habermas hat Merkel dafür „demoskopiegeleiteten Opportunismus“[2] vorgeworfen. Dieser Vorwurf hinkt schon deshalb, weil sich demokratische Politik ja gerade durch ihre Rückkopplung mit Wählermeinungen auszeichnet. Und bei der letzten Bundestagswahl hat Merkels Führung vom Markt her ihr 41,5 Prozent beschert. Die Bundeskanzlerin – und das ist ganz entscheidend – hat es dabei aber immer geschafft, sich postheroisch in Szene zu setzen. Merkel ist eine Schein-Postheroistin. Die Inszenierung der Nichtinszenierung, das „Sie kennen mich“, ist bei ihr in Wahrheit ein perfekt eingeübtes Stück gewesen. Die konfliktäre Sachpolitik konnte dabei weitgehend hinter die Präsidialkanzlerin zurücktreten. Bis die Flüchtlinge kamen.

Michael Müller ist in die postheroische Rolle als Nachfolger des auf seine Weise ebenfalls sehr heroischen Klaus Wowereit eher reingerutscht. Das Narrativ des unprätentiösen Machers aus Tempelhof, der auf den Regierenden Partymeister folgt, war vor allem zu Beginn schön und es hat ihm zunächst auch gute Beliebtheitswerte geliefert. Nur ist Berlin eben nicht Deutschland. Es gibt beispielsweise keine außenpolitische Bühne, auf der man glänzen kann, während man den Daheimgebliebenen das mühselige Tagesgeschäft überlässt. Und: Wer in Berlin erfolgreich sein will, der muss eine Berlin-Geschichte erzählen – die eigene (Nicht-)Inszenierung reicht da nicht aus oder sie muss zumindest, wie bei Wowereit, mit Berlin verbunden werden. Weil Berlin ein Schmelztiegel der Heterogenitäten ist, weil hier auf engstem Raum so viele Milieus, Kulturen, Religionen, Weltanschauungen, Verheißungen und Problemlagen zusammenkommen, muss ein Regierungschef eine narrative Klammer anbieten – ein Dach, unter das sich die Menschen mit einem Schuss Lokalpatriotismus auch dann noch stellen können, wenn der Rest (Schulen, Bürgerämter, Flughafen) nicht so gut läuft. Und man muss konstatieren: Wowereit hatte eine solche Geschichte („arm aber sexy“), Müller hatte sie bislang nicht.

In ihrem aktuellen Buch „Die neuen Deutschen“ sprechen Herfried und Marina Münkler in diesem Sinne von einem „Kompensationstheorem“: „Je größer die ethnische und religiöse Vielfalt einer Gesellschaft, desto mehr benötigt sie ein Zusammenhalt und Orientierung vermittelndes Narrativ.“[3] Und aus heutiger Sicht können wir sagen: Müllers Wahlkampf wurde erst ab dem Zeitpunkt richtig gut, an dem er auf den Postheroismus verzichtete und (mit Promi-Unterstützung von Joko, Klaas, Oliver Kalkofe, Clemens Schick und anderen) begann, ein solches Narrativ mit überzeugender Deutlichkeit zu erzählen: „Berlin ist der Inbegriff von Toleranz und Weltoffenheit und diesen Status lassen wir uns auch von einer lauten Minderheit engstirniger Rechtspopulisten nicht nehmen.“ Leider waren es da nur noch sechs Tage bis zur Wahl.

Die „Berlin bleibt“-Aussage

Mit der Betrachtung der zweiten Metaaussage Müllers, der „Berlin bleibt“-Aussage, kommen wir zurück zu dem oben erwähnten Bedürfnis der Berlinerinnen und Berliner nach alter Vertrautheit. Bei der Frage, warum diese Aussage nicht die erhoffte Wirkungsmacht entfalten konnte, gilt es zwei Ebenen zu unterscheiden. Die erste Ebene betrifft die Landespolitik. Diese Ebene – das zeigen uns alle Wahlanalysen – ist bei der Abgeordnetenhauswahl relativ wichtig gewesen.

Die Wahlkampagne der SPD, so gut sie handwerklich auch gewesen sein mag, ist auf der Straße in eine Glaubwürdigkeitslücke gefallen (eine Tatsache, die bei dem Fokusgruppen-Junkie Frank Stauss eigentlich verwundert). Es mögen ehrenwerte politische Ziele sein, dass Berlin „bezahlbar“, „schlau“ und „menschlich“ bleibt; wenn sie sich aber nicht mit der Alltagswahrnehmung der Menschen decken, dann wirkt politische Wahlkampfkommunikation artifiziell, sie bekommt ein Authentizitätsproblem. Wer in den letzten Jahren in Berlin eine Wohnung gesucht hat, der war eben ziemlich weit weg von „bezahlbar“, wer von seinen Kindern hört, dass Schultoiletten unbenutzbar sind, für den ist „Schlauheit“ erst einmal sekundär und wer sich an die Bilder vom Lageso aus dem letzten Herbst erinnert, der denkt nicht zuerst an „Menschlichkeit“. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die SPD hat für all diese Probleme während der vergangenen Legislatur relativ überzeugende Lösungsansätze entwickelt, nur greifen diese jetzt noch nicht. Und das Bitten um mehr Geduld ist im Wahlkampf eben keine Kategorie.

Die zweite Ebene, warum Berlin in diesem Wahlkampf nicht einfach „bleiben“ konnte, betrifft die Flüchtlingsfrage und das vor dem Hintergrund dieser Frage beobachtbare Erstarken von Rechtspopulismus im Allgemeinen und der AfD im Speziellen. Wir haben es hier mit einer Entwicklung zu tun, die Deutschland polarisiert und politisiert – so, wie wir es seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Wer hätte noch vor zwei Jahren gedacht, dass es mal ein Thema geben wird, das diese ungreif- und unangreifbare Kanzlerin so sehr ins Wanken bringt, dass sie sich (am Tag nach der Berlin-Wahl und neben einem zu diesem Zeitpunkt bereits politisch abgeschriebenen Frank Henkel) ins Konrad-Adenauer-Haus vor Kameras stellt und beteuert, sie würde die Zeit zurückdrehen, wenn sie nur könnte? Wer hätte gedacht, dass 24 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen in Deutschland wieder Flüchtlingsheime brennen und es immer noch Menschen gibt, die applaudierend davorstehen? Und wer hätte gedacht, dass eine (regionale) Volkspartei ihrer nationalen Schwester in einer zentralen politischen Frage mit einer Verfassungsklage (!) droht, weil die Stimmung so aufgeheizt ist, dass man einfach nicht mehr zueinanderkommt?

In einem solchen gesellschaftlichen Kontext kann Berlin – gerade weil es Berlin ist und die Welt eben immer noch auf diese Stadt schaut – nicht einfach „bleiben“. Es muss werden wollen. In dieser Zeit wollen die Menschen wissen, wo die Reise hingeht. Denn dass es eine Reise gibt, ist ohnehin allen klar. In dieser Zeit gibt es das Bedürfnis, sich zu politisieren, sich zu positionieren und sich jemandem anzuschließen, der ebenfalls klar positioniert ist. Das gilt im Übrigen für die AfD-Wähler in Lichtenberg genauso wie für die Grünen-Wähler im Prenzlauer Berg. Nur eines funktioniert in dieser Zeit mit Sicherheit nicht: Unentschlossenheit und Unentschiedenheit. Davon können mit Julia Klöckner, Guido Wolf, Rainer Haselhoff, Lorenz Caffier und Frank Henkel mittlerweile so viele wankelmütige CDU-Spitzenkandidaten ein Lied singen – sie könnten einen Chor aufmachen. Michael Müller hat das in den letzten Tagen seines Wahlkampfes erkannt und sich quasi selbstständig von der „Berlin bleibt“-Aussage verabschiedet, indem er auf ein zugespitztes negativ campaigning gegen Rechtspopulisten gesetzt hat.

Wenn wir aber davon ausgehen, dass klare und im Zweifelsfall kontroverse Positionierung entlang zentraler gesellschaftlicher Fragen heute wieder höher im Kurs steht, dann bedeutet das automatisch auch eine Rückkehr zu längst vergessen geglaubten parteipolitischen Lagerstrukturen – vor allem auf der linken Seite. Und hier waren die eher links orientierten Berlinerinnen und Berliner an den Wahlurnen (52,4% für Rot-Rot-Grün) tatsächlich smarter als die Parteistrategen im Wahlkampf. Wie kann es in der beschriebenen Situation beispielsweise sein, dass sich der Regierende Bürgermeister am 17. August, also einen Monat vor der Wahl, in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel klar für Rot-Grün ausspricht (wenn es einen Punkt gab, an dem dieser Wahlkampf theoretisch hätte Fahrt aufnehmen können, dann war es dieser Tag) und die Berliner Grünen davon völlig überrascht, ja kalt erwischt zu sein schienen? Die grüne Spitzenkandidatin Ramona Pop sogar so kalt, dass sie Müller am Tag darauf faktisch der Lüge bezichtigte, anstatt den Schwung aufzunehmen, ebenfalls für ein solches Bündnis zu werben und dabei die Alleinstellungsmerkmale der Grünen herauszustellen. Oder: Wie kann es sein, dass Müller und Pop drei Wochen nach ihren Tagesspiegel-Texten beim Duell der Spitzenkandidaten nebeneinander im Studio des rbb stehen, betonen, dass sie miteinander gehen wollen und dann 90 Minuten lang nichts Besseres auf dem Zettel haben, als sich gegenseitig Vorwürfe machen? Hallo!? Und das zu einer Zeit, in der Umfrageinstitute Rot-Rot-Grün und Rot-Grün bereits als die beiden Koalitionen mit den höchsten Zustimmungswerten bei den Berlinerinnen und Berlinern gesehen haben[4].

Insofern ist die sich nun abzeichnende „R2G“-Koalition auch eine Folge des stark durch die Flüchtlingsdebatte geprägten Rufes nach Positionierung, bei dem im Land Berlin eben die Mehrheit auf der linken Seite (zu der man in dieser Frage sogar noch die FDP zählen könnte) und die Minderheit auf der rechten Seite (natürlich bei Unterschieden zwischen CDU und AfD) steht. Allein schon deshalb wäre die Fortführung einer großen Koalition, selbst wenn sie rechnerisch möglich gewesen wäre, politisch völlig undenkbar. Und deshalb wird es auch eine der entscheidenden Fragen der neuen Koalition sein, ob der Berliner Landesverband der Linken seine Unanfälligkeit für die wiederholten Rechtsblink-Manöver einer Sahra Wagenknecht beibehalten kann oder nicht. Bislang gilt: Die Reformorientierung der Linken in Berlin ist unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren von Rot-Rot-Grün. Und sie macht die Berliner Koalition gleichzeitig zu einem Konstrukt, das eben nicht problemlos in andere Länder oder gar auf den Bund übertragen werden kann.

Weil die Berliner Wahl aber dennoch als Seismograph für die Bundestagswahl im kommenden Jahr empfunden und gedeutet wird, will ich mit drei kurzen Thesen schließen, die das bislang Gesagte auf die Bundespolitik übertragen.

1. Lagerbildung ist die Achillesverse der Union – und damit noch lange kein Selbstläufer für die SPD

Rot-Rot-Grün, lange Zeit aus ideologischen und politischen Gründen für unmöglich erklärt, könnte nun zu einem aus machttaktischen Überlegungen heraus entstehenden und von medialem Druck befeuerten Trend werden. Das ist das Paradoxon des Aufstiegs der AfD. Denn klar ist: Große Koalitionen sind vor allem der SPD-Basis immer schwerer zu vermitteln. Und die Rehabilitierung der politischen Lager schadet vor allem der Union, weil sie ihr die Machtperspektiven raubt: Schwarz-Grün ist seit der Flüchtlingsdebatte immer unwahrscheinlicher geworden, die FDP ist (noch) zu klein und die AfD völlig unkoalierbar. Deshalb muss es machttaktisch im Interesse der SPD sein, rot-rot-grüne Perspektiven frühzeitig vorzubereiten – strategisch wie inhaltlich. Das wird bei einer Partei, die so viel Spaß an selbstreferenzieller Zerfleischung hat, keine leichte Aufgabe. Der Berliner Wahlkampf jedenfalls war für Strategiefragen dieser Art kein Paradebeispiel.

2. Die asymmetrische Demobilisierung ist ein Bumerang

Die oben beschriebene Inszenierung der Nichtinszenierung funktioniert nur so lange, wie man suggerieren kann, sich in kontroversen Sachfragen nicht zu positionieren und diese Fragen vom „Markt“ her entscheiden zu lassen. Letzteres hat Angela Merkel über die Jahre perfektioniert und in Wahlkämpfen als „asymmetrische Demobilisierung“ erfolgreich strategisiert. Asymmetrische Demobilisierung setzt aber auf eine Entpolitisierung der Bürger und sie bekommt deshalb ein ernsthaftes Problem, sobald die Menschen wieder aus dem Dornröschenschlaf erwachen. Genau dieses Phänomen können wir gegenwärtig bei allen Landtagswahlen an den enormen Gewinnen der AfD aus dem Nichtwählerspektrum beobachten. Merkels Politikstil einer Camouflierung von Konflikten hat deshalb mit der Flüchtlingsfrage nicht nur ein Ende gefunden – er fällt ihr zusammen mit dieser Frage auf die Füße.

3. Politische Kommunikation muss sich von ihrem Alibi-Status befreien

Der neue Aufstieg des Rechtspopulismus ist eine einfache Konsequenz des enormen Komplexitätsanstiegs von politischen Problemen. Das Feld dafür haben bereits die Finanz- und die Eurokrise geebnet, deren Ursprünge und Zusammenhänge niemand mehr so richtig verstanden hat. Mit der Flüchtlingskrise ist diese Ursachenüberforderung (innerislamische Konflikte, Syrien-Krieg, geostrategische Position der Türkei usw.) auf ein neues, ein emotionales Level gestiegen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich dagegen bin, dass „die Griechen“ „unsere“ Steuergelder bekommen oder ob ich dagegen bin, dass in meiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Flüchtlingsunterkunft entsteht. Weil viele Menschen der Politik eine erfolgreiche Bekämpfung der Ursachen auf diesen Feldern ohnehin nicht mehr zutrauen, kann die AfD mit ihrer populistischen Verengung auf eine reine Symptombekämpfung („Raus aus dem Euro“, „Flüchtlinge abschieben“, „Grenzen zu“) so erfolgreich punkten. Dieser Erfolg, auch das haben die Analysen der Berlin-Wahl gezeigt, gründet ja nicht auf originären Politikkonzepten der AfD, sondern auf einer Entfremdung vieler Menschen mit den „etablierten“ Parteien bzw. mit der Komplexität ihrer Lösungsangebote. „Der Kampf Kopf gegen Herz“, so hat es der Berliner CDU-Stratege Peter Radunski kürzlich wunderbar auf den Punkt gebracht, „ist eben eine schiefe Schlacht“[5]. Und leider ist es in der Tat ungleich schwerer, den Syrien-Krieg zu beenden als Grenzkontrollen in Deutschland zu fordern. Es wird in der politischen Auseinandersetzung der nächsten Monate und Jahre deshalb entscheidend darauf ankommen, wer dieser Komplexitätsfalle am glaubwürdigsten und am ehrlichsten entkommt. Das bedeutet auch, dass seriöse, professionelle und vor allem ernst gemeinte politische Kommunikation – die im Kern eben etwas völlig anderes ist, als ein nachgereichtes Erklären von bereits getroffenen Entscheidungen – wieder an Relevanz gewinnen muss. Und das zumindest ist doch gar kein schlechter Ausblick.

 

Der Autor

Daniel Wixforth ist promovierter Kommunikationswissenschaftler und Director bei den 365 Sherpas. Seine Schwerpunkte umfassen strategische Politik- und Medienberatung – insbesondere auch im Hinblick auf den fortdauernden Medienwandel.

 

Quellen

[1] Dirk Baecker, Quelle: https://www.deutschlandradiokultur.de/postheroismus-wenn-helden-nicht-mehr-noetig-sind.976.de.html?dram:article_id=299526

[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/europapolitik-merkels-von-demoskopie-geleiteter-opportunismus-1.1082536

[3] Münkler, Herfried und Marina: Die Neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft, Berlin 2016, S. 190.

[4] https://civey.com/umfragen/koalition-berlin/

[5] Peter Radunski in der Sendung „Maischberger“ (ARD) vom 22.9.2016

 

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