Mein Verhältnis zu Angela Merkel war lange schwierig, dann seltsam ungeklärt und zuletzt von überraschender Innigkeit. Zeit, ihr das alles einmal mitzuteilen.

 

Liebe Angela Merkel,

Sie kennen mich nicht. Ich hingegen habe das Gefühl, Sie ganz gut zu kennen – vermutlich die gängige Selbsttäuschung eines Beobachters. Ich kenne außerdem ein paar Menschen, die Sie oft persönlich und hinter den Kulissen erlebt haben. Mit denen habe ich einige Male über Sie gesprochen. Meistens haben diese Menschen von Ihnen geschwärmt; von Ihrem Witz, Ihrem Charme, von Ihrer Schlagfertigkeit wenn keine Kameras dabei sind. Komischerweise waren diese Geschichten fast immer vertraulich – „unter drei“, wie wir Politik- und Kommunikationsleute sagen. Die menschliche Angela Merkel, so hatte ich mitunter das Gefühl, existiert eigentlich nur unter drei.

Und schließlich wären Sie und ich im Herbst 2010 um ein Haar einmal zusammen auf einer sehr kleinen abendlichen Feier gelandet. Aber dann kollabierten in Irland die Banken und an dem Abend, an dem ich mit Ihnen hätte Rotwein trinken können, mussten Sie den Euro retten. Wieder einmal.

Der übergroße Teil meiner Beziehung zu Ihnen beruht also auf Fernsehen, Beobachten, Lesen und über Sie Nachdenken. Und auf der Tatsache, dass unsere Väter die gleichen Berufe hatten. Daher sollte ich, von Pfarrerssohn zu Pfarrerstochter, besser gleich etwas klarstellen: Ich habe Sie nie gewählt, kein einziges Mal. Mehr noch, ich habe Sie ziemlich lange ziemlich leidenschaftlich abgelehnt. Jetzt, wo Ihre politische Zeit wohl bald zu Ende geht, habe ich das Bedürfnis, Sie über meine Beziehung zu Ihnen zu unterrichten. Soviel vorweg: Unsere Geschichte enthält mindestens so viele Metamorphosen wie Ihre Politik in den letzten eineinhalb Jahrzehnten.

Sie beginnt, so erinnere ich das jedenfalls heute, vor beinahe 16 Jahren, im Februar 2003. Sie haben damals unter dem Titel „Schroeder doesn’t speak for all Germans“ einen Gastbeitrag für die Washington Post geschrieben. Ihr Kernvorwurf an die rot-grüne Bundesregierung und vor allem an Kanzler Schröder: Das Nein zum Irakkrieg sei ein folgenschwerer Irrweg zugunsten einer billigen Wahlkampfmasche: „The most important lesson of German politics – never again should Germany go it alone – is swept aside with seeming ease by a German federal government that has done precisely this, for the sake of electoral tactics.“ Mein Eindruck damals (und irgendwie bis heute): Sie haben eine fragwürdige historische Argumentation genutzt, um als Oppositionsführerin taktische Spielchen zu spielen und reflexhafte Kritik zu üben an einer in ihrer Bedeutung eigentlich kaum zu überhöhenden Regierungsentscheidung, die zudem nicht nur im Einklang mit hunderttausenden Friedensdemonstranten hierzulande stand, sondern die vor allem politisch wie moralisch eines war: alternativlos. Für mich jedenfalls.

Unser Verhältnis, liebe Frau Merkel, hatte damals keinen guten Start.

Das wurde gegen Ende des Jahres 2003 auch nicht besser. Sie wissen vielleicht, worauf ich hinaus will: der berühmte CDU-Parteitag in Leipzig. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon Gerhard Schröder-Sympathisant. Aber Ihre Parteitagsrede von Leipzig machte mich auch jenseits des in seiner coolen Alphatierhaftigkeit auf junge Männer irgendwie anziehend wirkenden Bundeskanzlers zu einem mehr oder weniger überzeugten Sozialdemokraten. Dieses Deutschland, das Sie da in Leipzig von der Kanzel herab beschworen – ein Deutschland mit Kopfpauschale und drei Steuersätzen auf einem Bierdeckel (by the way: wer hat’s erfunden?) –, das wäre auf jeden Fall nicht mein Land gewesen.

Ihr grausig-kalter Fernsehspot aus dem Bundestagswahlkampf 2005 – ich muss das leider so deutlich sagen – passte da genau in das Bild, das ich damals von Ihnen hatte. Die Eisenkugel, die über den Tisch rollt und alles umwirft, wird am Ende zwar von Ihnen aufgefangen, sie war aber in ihrer destruktiven Kühle auch eine Metapher für meine Wahrnehmung der Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Und natürlich habe ich mich am Wahlabend darüber gefreut, dass Sie hinter allen Umfragen zurückgeblieben sind. Gerhard Schröder hatte zwar die Kanzlerschaft knapp verloren, aber mit Cowboymoves wie der Liebeserklärung an seine (damalige) Frau mitten im TV-Duell war er schlicht der coolere Typ. Und: Sein Kirmesboxer-Auftritt in der Elefantenrunde hat nicht nur Ihnen das Kanzleramt gesichert, sondern auch mir die Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen.

Dann waren Sie auf einmal Bundeskanzlerin. Sie durften beim Sommermärchen 2006 die oberste Jublerin der Republik sein und mussten kurz darauf Krisen am Fließband meistern. Bankenkrise, Finanzkrise, Eurokrise, Schuldenkrise, Griechenlandkrise und so weiter. Es gab eigentlich jeden Tag eine neue Krise. Der SPIEGEL-Redakteur Dirk Kurbjuweit hat 2011 ein langes Portrait mit dem Titel „Die halbe Kanzlerin“ über Sie geschrieben, das ich bis heute für den besten Text halte, der je über Sie erschienen ist. Kurbjuweit beschreibt Sie darin als „Aufgabenlöserin“, für die „Ideen nachrangig“ sind und die daher „mehr Marxistin als Hegelianerin“ sei. Über die Krisenmanagerin Merkel schreibt er: „Man kann sie kaum zermürben, weil jede neue Schwierigkeit als neue Aufgabe willkommen geheißen wird. Man kann sie kaum zur Verliererin machen, weil mit jedem Kompromiss ihre Aufgabe gelöst ist, sei er noch so faul“. Auch Kurbjuweit hat in diesem Text das Problem, dass er die wirklich sympathischen Dinge über Sie aus Unter-drei-Gründen nicht erzählen darf. Er deutet sie aber so charmant an, dass ich heute einen freundschaftlichen Tipp für Sie habe, Frau Merkel: Wenn Sie das nächste Mal jemanden treffen, der ein schlechtes Bild von Ihnen hat (vielleicht Donald Trump oder Friedrich Merz mit „e“), dann geben Sie ihm den Kurbjuweit-Text! Ich glaube es gibt niemanden, der Sie danach nicht ein bisschen mehr mag als vorher.

Mir jedenfalls hat der Text den Menschen Angela Merkel damals näher gebracht; politisch hielten sich meine Sympathien für Sie 2011 immer noch in Grenzen. Ich habe Ihre Eurorettungspolitik handwerklich respektiert, fand sie in ihrer Austeritätsverliebtheit aber mindestens zu einseitig und mitunter auch gefährlich. Und außerdem haben Sie uns diese Politik nie vernünftig erklärt! Diese strukturelle Kommunikationsverweigerung habe ich Ihnen eigentlich sowieso fast immer übel genommen.

Als Jürgen Habermas Ihnen im April 2011 in einer Generalabrechnung in der Süddeutschen Zeitung „demoskopiegeleitete Machtpragmatik“ nach einem „opportunistischen Drehbuch“ vorgeworfen und dabei nicht nur Ihre Eurokrisenpolitik sondern auch Ihren Ausstieg vom Ausstieg aus dem Atomausstieg ins Feld geführt hat, fand ich das zumindest nicht abwegig. Und bei einem anderen Thema hatte Habermas einen wirklichen Punkt: Karl-Theodor zu Guttenberg. Es war, so schrieb Habermas, „nicht Guttenberg, sondern die Regierungschefin selbst, die (in den Worten der FAZ)‚ ‚die halbe Republik und fast die ganze CDU zum Lügen gebracht‘ habe, als sie den öffentlich überführten Plagiator aus Rücksicht auf dessen Beliebtheit im Amt behielt.“

Sie und ich, Frau Merkel, wir waren 2011 eigentlich schon auf einem ganz guten Weg. Aber Ihr stoisches Festhalten an diesem Blitzlichtpolitiker? Mit dem Argument, Sie hätten keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter, sondern einen Verteidigungsminister berufen? Das hat uns beiden wieder zurückgeworfen.

Sie haben dieses ereignisreiche Jahr 2011 dann mit einem Parteitag (wieder in Leipzig!) beendet, auf dem Sie – nur acht Jahre nach dem neoliberal durchtränkten Leipzig von 2003 – von „Lohnuntergrenzen“ und „Finanzmärkten als Brandbeschleuniger“ gesprochen haben. In mir hat das ein weiteres Mal die im Zusammenhang mit Ihnen so oft gestellten Fragen aufgeworfen: Wie volatil dürfen Überzeugungen sein? Und ist Beliebigkeit begrüßenswert, wenn die Richtung stimmt? Heute würde ich vermutlich sagen, dass demoskopiegeleitete Pragmatik in einer repräsentativen Demokratie nicht das schlechteste Mittel sein muss. Aber damals war ich mir da nicht so sicher.

Diejenige, die im darauffolgenden Jahr meine politische Distanz zu Ihnen zum ersten Mal nachhaltig verkürzt hat, war ausgerechnet Gertrud Höhler. Die Frau, die ihr 2012 erschienenes Buch über Sie „Die Patin“ nannte und es all jenen widmete, „die die Faust noch in der Tasche haben“ (ein Sprachbild, das heute wohl von der AfD kommen würde). Höhler war wie Habermas, nur von rechts und viel weniger schlau. Sie argumentierte durchschaubar und populistisch – unter anderem, sehr krude und pseudo-biografisch, mit Ihrer DDR-Sozialisation. Die These: Sie, Frau Merkel, hätten die westdeutsche CDU nach 1990 als neues Spielfeld entdeckt und über die Jahre ein mafia-artiges System der entsachlichten Machtpolitik aufgebaut, in dem Sie „Moral zur Manövriermasse“ degradieren und unser Land dadurch langsam aber sicher aus der Demokratie heraus führen würden.

Nachdem ich das Buch gelesen hatte, beschlich mich zum ersten Mal jenes Gefühl, das Jahre später, im Herbst 2015, noch viel intensiver zurückkehren sollte: Es ist eventuell angebracht, diese Kanzlerin gegen jene zu verteidigen, die das Argument der Machtversessenheit als billigen Vorwand nutzen, um Sie, Frau Merkel, dafür haftbar zu machen, dass die Welt sich nicht nur weiter, sondern auch immer schneller dreht. Plötzlich wich meine jahrelange Kritik an Ihrer Chamäleonhaftigkeit dem Gedanken, dass dahinter vielleicht gar nicht Überzeugungslosigkeit steht, sondern vielmehr die Überzeugung, dass die eigenen Visionen weniger wichtig sind als das zeitgemäße Lösen von Sachproblemen.

Und auch wenn ich mir im darauffolgenden Jahr einen Kanzler Steinbrück durchaus gut hätte vorstellen können, waren die aus heutiger Sicht wahnsinnigen 41,5%, die Sie bei der Bundestagswahl 2013 eingefahren haben, wohl der Beweis dafür, dass ich mit meiner stillen Anerkennung für Ihren „post-heroischen Politikstil“ (Dirk Baecker) alles andere als alleine war (wenngleich auch ich zu den Kritikern Ihrer asymmetrischen Demobilisierungsstrategie gehört habe und eigentlich bis heute gehöre). Als Sie dann auf der Wahlparty im Konrad-Adenauer-Haus auch noch vor laufenden Kameras einem überdrehten Hermann Gröhe die Deutschlandfahne wegnahmen, da empfand ich zum ersten Mal so etwas wie echte Sympathie. Nicht, weil ich etwas gegen Deutschlandfahnen hätte, sondern weil es Menschen attraktiv macht, wenn sie ein feines Gespür für situative Symbolik haben.

Liebe Frau Merkel,

Sie werden es schon ahnen: Natürlich haben die letzten drei Jahre, die Zeit ab Herbst 2015, zu der größten und nachhaltigsten Wandlung in unserer Beziehung geführt. Unser Verhältnis ist seit der Flüchtlingsdebatte inniger geworden, viel inniger. Mehr noch als Ihr „Wir schaffen das“ hat mich beeindruckt, was Sie Mitte September 2015 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann gesagt haben: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Ich glaube, das war unser persönlicher Schröder-Moment, unser gemeinsames Nein zum Irakkrieg. Und dieser Moment wurde noch wertvoller dadurch, dass Sie sich für Ihre Entscheidung, die deutsch-österreichische Grenze in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 nicht geschlossen zu haben, tatsächlich nie entschuldigt haben. Im Gegenteil. Die „Zauder-Künstlerin“ Merkel (Nikolaus Blome, 2013) gab es nicht mehr. Im September 2015 haben Sie die demoskopiegeleitete Machtpragmatik gegen einen humanitären Imperativ ausgetauscht. Das – davon bin ich überzeugt, Frau Merkel – war politisch wie moralisch absolut alternativlos.

Aber Sie haben damit, auch das wissen Sie sehr genau, das Land polarisiert und Ihren Feinden eine Menge Auftrieb gegeben. Von AfD-affinen „Normalbürgern“ über fast die gesamte CSU bis zu deutlich messbaren Teilen der CDU hat sich eine Anti-Merkel-Koalition gebildet, die von Chefredakteuren in Schützengräben immer wieder publizistisch beatmet wurde und bis heute wird. Nur vor dem Hintergrund dieser permanenten Angriffe und Wirkungstreffer kann ich mir erklären, dass Sie einen so destruktiven und erratischen Geist wie Horst Seehofer bis heute in Ihrem Kabinett belassen. Nur vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen das verzeihen.

Mich jedenfalls haben diese Polarisierung und die Anfeindungen immer weiter zu Ihnen hingetrieben. Ich habe Sie in privaten Diskussionen der letzten Jahre so oft leidenschaftlich verteidigt, dass es mir manchmal selbst unheimlich wurde.

Unsere Beziehung, so kann man das ohne Umschweife sagen, wurde im Herbst 2015 auf ein neues, vorher undenkbares Level gehoben. Das heißt nicht, dass ich an Ihnen und Ihrer Politik seither nichts mehr auszusetzen hätte. Ihre stille Verschärfung der Asylpolitik nach 2015 war mindestens punktuell streitbar und bei der „Ehe für alle“, der „Causa Maaßen“ und zuletzt in der Diesel-Frage blitzte immer wieder die alte, die attentistische Angela Merkel auf. Und selbst bezogen auf die historische Nacht im September 2015 kann man kritisieren, dass Sie diese Entscheidung vorher vielleicht schlecht vorbereitet und hinterher mit Sicherheit schlecht erklärt haben (unser gemeinsamer Freund Dirk Kurbjuweit tut das im aktuellen SPIEGEL). An dem Gefühl, dass Sie im alles entscheidenden Moment auf der richtigen Seite standen, ändert das alles aber nichts.

Erlauben Sie mir, liebe Frau Merkel, aus der heutigen Festigkeit unserer Beziehung heraus eine letzte Bemerkung zur aktuellen Situation: In Ihrer Erklärung zum Verzicht auf den abermaligen Parteivorsitz und zum geplanten Ende Ihrer Kanzlerschaft im Jahr 2021 (wir beide wissen, dass es so lange nicht dauern wird), gab es zwei bemerkenswerte Passagen. Die erste: „Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren. Und das habe ich auch nie vergessen.“ Und die zweite: „Ich versuche mit dieser Entscheidung einen Beitrag zu leisten, der es der Bundesregierung ermöglicht, ihre Kräfte auf endlich gutes Regieren zu konzentrieren, und das verlangen die Menschen ja zu Recht.“

Unter uns Pfarrerskindern: Gemessen an dieser protestantischen Amtsethik und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die früher für Sie charakteristische Unantastbarkeit innerhalb einer Regierung schon vor der letzten Bundestagwahl unwiederbringlich verloren gegangen war, muss ich sagen, dass es vermutlich besser gewesen wäre, 2017 nicht noch einmal anzutreten. Sie haben das ja offenbar auch selbst gespürt und lange mit sich gerungen. Ich sage das nicht, weil mir in Ihrer Partei irgendjemand einfallen würde, den ich für fähiger hielte. Auch nicht aus sozialdemokratischer Taktik heraus. Ich sage das, weil ich Ihnen einen großen und alleinig selbstbestimmten Abgang wirklich gegönnt hätte. Und bei allem Respekt für Ihre nun getroffenen Entscheidung – ich fürchte, dafür ist es jetzt zu spät.

 

In Verbundenheit,

Ihr Daniel Wixforth

 

Bild: picture alliance/REUTERS/Kai Pfaffenbach