Olaf Scholz ist als Kanzlerkandidat keine wirkliche Überraschung. Trotzdem kann er im Rennen um Merkels Nachfolge für Union und Grüne eine dialektische Gefährlichkeit entwickeln – wenn die SPD dieses Mal alles richtig macht.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die SPD ausgerechnet einen Tag nach dem heißesten Wochenende des Jahres den kühlsten Polit-Profi der Republik zu ihrem Kanzlerkandidaten macht. Olaf on the Rocks, abkühlen mit Scholz – vielleicht wird das ja zur strategischen Prämisse der nächsten 13 Monate.
Denn natürlich leben wir in einer aufgeheizten Republik, nicht nur klimakrisentechnisch. Julian Reichelt, dem weiß Gott nicht oft zuzustimmen ist, hat kürzlich in einem Kommentar die kluge Formulierung eines „langen Winters der Wahrheit“ benutzt, um deutlich zu machen, was diesem Land bevorstehen könnte, wenn es wieder kälter wird: Auslaufen des Kurzarbeitergeldes, Mittelstandspleiten und ein paralleles Steigen von Infektions- und Arbeitslosenzahlen. Reichelt sagt dazu: „Am Arbeitsmarkt lauert millionenfach die Radikalisierung, die wir am Wochenende auf der Straße [Anmerkung: auf der Hygiene-Demo in Berlin] und in den sozialen Medien erleben konnten.“ Und da haben wir den Blick noch nicht über den europäischen Tellerrand gerichtet. Was, wenn der Libanon mit seinen über zwei Millionen Geflüchteten weiter in Protesten und Chaos versinkt und sich wieder deutlich mehr verzweifelte Menschen auf den Weg Richtung EU machen? Oder wenn die Lage in Belarus, das noch dichter vor den Toren der Europäischen Union liegt, weiter eskaliert? Was, wenn Donald Trump es irgendwie doch schafft, im November wiedergewählt zu werden? Oder zumindest so knapp verliert, dass er die USA in eine Verfassungskrise stürzen kann? All das sind Worst-Case-Szenarien, aber keine Hirngespinste. Winter is coming, würde man bei HBO sagen.
Und in dieser Gesamtlage nun also Olaf Scholz, der sich zwar bei seiner Vorstellung im Schöneberger Gasometer Mühe gab, schon ein ganz bisschen wie ein Wahlkämpfer zu klingen, aber eben doch Olaf Scholz bleibt: hanseatisch, nüchtern, sachorientiert, zuverlässig. Alles Attribute, die in der politischen Topographie der letzten 15 Jahre beileibe keine Unbekannten sind. Es sind exakt die Werte, mit denen Angela Merkel mit kleinen Ausreißern um und nach 2015 zu einer Epochen-Kanzlerin geworden ist. Und jetzt wird es spannend: Die von den Sozialdemokraten seit Jahren beklagte Sozialdemokratisierung der CDU, die in Wahrheit eine Sozialdemokratisierung einer zunehmend präsidial agierenden Kanzlerin war, wird jetzt, wo diese Kanzlerin nicht mehr antritt, nach all den Jahren auf einmal zum taktischen Vorteil. „Wer Merkel behalten will, muss Scholz wählen“, wäre demnach der (freilich inoffizielle) Slogan der Genossen. Wenn das nicht Dialektik vom Feinsten ist! Der in diesen Tagen seinen 250. Geburtstag feiernde Hegel trinkt im Philosophenhimmel vermutlich gerade ein Gläschen Pinot Grigio auf die alte Tante SPD.
Darüber hinaus muss man sagen: Wer vonseiten der parteipolitischen Wettbewerber Scholz und der SPD jetzt einen unangemessen frühen Wahlkampfbeginn mitten in der Pandemie vorwirft, dem fehlen entweder die Argumente oder das politische Vorstellungsvermögen. Der einzige, der es sich wird leisten können, im langen Winter der Wahrheit keinen (innerparteilichen) Wahlkampf zu machen und sich stattdessen auf die Pandemie zu konzentrieren, ist …? Genau. Während Laschet, Merz, Spahn und Söder auf der einen sowie Baerbock und Habeck auf der anderen Seite – ob sie wollen oder nicht – in Profilierungsgrabenkämpfe verwickelt werden, kann Olaf on the Rocks in Ruhe die erhitzte Republik abkühlen. Und es kommt noch ein zweiter, ebenfalls fast hegelianischer Punkt hinzu: Wie will die Union eigentlich einen polarisierenden Wahlkampf gegen den Vizekanzler der eigenen Regierung führen? Auch hier gilt: Die sozialdemokratischen Probleme der letzten 12 Jahre wechseln 2020/21 die Seite.
Also endlich alles sonnig bei der SPD? Vorsicht! Selbst wenn wir Wirecard, CumEx und die aktuellen Umfragewerte hier für den Moment einmal beiseite lassen, bleibt die SPD, erstens, immer noch die SPD. Nur weil in den letzten drei Tagen die Reihen ziemlich geschlossen wirkten, heißt das noch nicht, dass das auch in den nächsten 13 Monaten so sein wird. Es gibt an innerparteilichen Kritikern ja nicht nur den mit einer Berliner Bundestags-Listen-Pole-Position runtergekühlten Kevin Kühnert. Parteichefin Saskia Esken muss schon jetzt via Twitter manch aufgeheiztes Gemüt aus der #noOlaf -Fraktion runterkühlen.
Und außerdem gibt es, zweitens, noch die alte Steinbrück’sche Bewegungsfrage: Muss der Kandidat sich inhaltlich auf die Partei zubewegen oder die Partei auf den Kandidaten? Man mag es kaum glauben, aber auch hier hilft Hegel. Die Antwort ist nämlich, dass dieser Gegensatz dialektisch aufgehoben werden muss – dass die heiße Partei und kühle Kandidat in ihrer habituellen Gegensätzlichkeit zu einer Synthese verschmelzen müssen. Man hört das im Jahr 2020 ja nicht mehr so gerne, aber der letzte, der das geschafft hat, war Gerhard Schröder. Gelingt eine solche Synthese 2021 (wieder) nicht, dürfte selbst ein Vollprofi wie Scholz chancenlos bleiben. Hoffnung aus sozialdemokratischer Sicht macht hier die Tatsache, dass Scholz, anders als seine Vorgänger Steinbrück und Schulz, einen professionellen Machtapparat von Vertrauten mitbringt – allen voran seinen umtriebig twitternden Staatssekretär und Chefstrategen Wolfgang Schmidt. Das heißt aber auch: Der Wahlkampf muss auf oberster strategischer Ebene aus dem BMF und nicht aus dem Willy-Brandt-Haus geführt werden. Offiziell darf das natürlich nicht sein, inoffiziell muss man sagen, dass Angela Merkel, wenn es wirklich wichtig wurde, alle ihre Wahlkämpfe aus dem Kanzleramt und nicht aus dem Konrad-Adenauer-Haus hat managen lassen.
Zuletzt sind da natürlich noch die Wettbewerber um Merkels Nachfolge. Aus grüner Sicht kann man nur hoffen, dass die Partei am Ende den Mut zu Annalena Baerbock haben wird. Sie würde in dem Ensemble potenzieller nächster Kanzler:innen am glaubwürdigsten für „Aufbruch“ stehen. Olaf Scholz besetzt die Gegenseite, auf der ganz groß „Verlässlichkeit“ steht. Oder wahlweise „Sie kennen mich“. Und Laschet, Merz, Spahn, Röttgen? Alle weit weg von Aufbruch und eher im Lager des Altbekannten. Nur sind sie innerhalb dieses Lagers alle weniger profiliert als Scholz. Es gibt nur einen Kandidaten, der es schaffen könnte, virtuos zwischen den Polen von Verlässlichkeit und Aufbruch zu tanzen – und der kommt aus Bayern. Nicht zuletzt deshalb wäre Markus Söder aus Unions-Sicht eine so geniale Wahl: Die Deutschen entscheiden sich am Ende eben nicht so gern, sie nehmen am liebsten von allem etwas.