Wie berechenbar ist das politische System in Österreich nach den Nationalratswahlen noch? Sophie Karmasin, österreichische Bundesministerin für Familien und Jugend, im Gespräch über die politischen Entwicklungen in Österreich, die Spielregeln in der Politik und die Frauenquote.
365 Sherpas: Die jahrzehntelang regierende SPÖ und ÖVP waren bei den Bundespräsidentenwahlen nur Zuschauer, gewonnen hat ein Grüner gegen einen FPÖ-Kandidaten. Bei den Nationalratswahlen wiederum hat die ÖVP gewonnen, die Grünen sind an der Vier-Prozent-Hürde gescheitert. Was ist da los in Österreich, wie berechenbar ist das politische System?
Karmasin: Berechenbar ist, dass es den konstanten Wandel und immer wieder neue Hoffnung in der Bevölkerung gibt. Und wie auf vielen Märkten ergibt ein Trend einen Gegentrend. In Österreich sehen wir sehr klar, dass nach den Jahren der großen Koalition der Sozialdemokratie mit den Konservativen der Gegentrend mehrheitsfähig wurde. Beschleunigt wurde diese Entwicklung zum einen durch die Herausforderungen der Migration im Jahr 2015, zum anderen aber auch durch teilweise reale Abstiegsängste. Der amtierenden Bundesregierung hat man nicht mehr genug vertraut, begünstigt durch öffentliche Auseinandersetzungen und innerparteiliche Debatten. Neue Personen und neue Konstellationen über Neuwahlen waren notwendig, um sich für das andere entscheiden zu können.
365 Sherpas: Wenn Sie auf die mögliche Koalition zwischen FPÖ und ÖVP sehen: Wie wird sich die Politik, die Stimmung im Land verändern?
Karmasin: Bei dieser Wahl wurde die alte Form der großen Koalition abgewählt. Von einer Koalition der Neuen Volkspartei mit der FPÖ erwartet man sich Reformen und Geschlossenheit. Die Regierung wird daher mit einigem Gegenwind zu rechnen haben, da die meisten Veränderungen auch Verlierer beinhalten. Von den Themen wird es sich erwartungsgemäß um Fragen der Migration, Sozialmissbrauch, Abgabenentlastung sowie Entbürokratisierung drehen.
365 Sherpas: Die deutsche Wochenzeitung „DIE ZEIT“ titelte: „Demokratie braucht Berechenbarkeit“ – also: unverhandelbare Einverständnisse zwischen den Parteien. Ist die Demokratie bedroht durch Unberechenbares wie Fake News, Grassroot-Bewegungen und die Erfolge der Populisten?
Karmasin: Die Parteien der sogenannten Mitte, die SPÖ, die Neue Volkspartei, aber auch die Grünen tun sich schwer, klare Differenzierungen in relevanten Themen jenseits der Migrationsfrage zu vermitteln. Es gibt nicht mehr so viele ideologische Themen, an denen sich Parteien der Mitte unterscheiden können: Wirtschafts-, Klima- und Gesellschaftspolitik werden vielfach ähnlich betrachtet. Unterschiede müssen oft mit der Lupe gesucht werden. Ideologische Grabenkämpfe werden kaum mehr geführt, umso schwerer wird daher die Unterscheidbarkeit. In diesem Zusammenhang wirken populistische Ansätze einfach und klar. Soziale Medien und Fake News tun in einer undurchschaubaren Welt ihr Übriges. Die Sehnsucht nach klaren Botschaften, die keine Ambivalenzen zulassen, ist daher sehr präsent. Die Demokratie ist dann gefährdet, wenn wir die Bürgerinnen und Bürger nicht über die Phänomene aufklären und sie mit der Digitalisierung und neuen Medien alleine lassen.
365 Sherpas: Was den Anteil der Frauen in der Politik angeht, gehört Österreich zu den Schlusslichtern – nur 63 der 183 Nationalratssitze sind mit Frauen besetzt. Fehlen der Mut und der Wille in die Politik zu gehen oder haben die Männer die Befürchtung, dass Frauen den bisherigen Politikbetrieb zu stark aufrütteln und ihn unberechenbarer für Männer machen?
Karmasin: Aus meiner Sicht sind der Mut und der Wille in die Politik zu gehen durchaus vorhanden, aber auch im neuen Nationalrat sind Frauen mit 34 Prozent unterrepräsentiert, obwohl die Neue Volkspartei und die SPÖ bei dieser Wahl auf ein verpflichtendes Reißverschlusssystem setzten. Auch das Vorzugsstimmensystem wurde ausgebaut, was der Frauenquote generell helfen könnte. Das politische System ist jedoch in vielen Bereichen männlich dominiert. Frauen erkennen schnell, dass die Politik in Bezug auf den Gestaltungsrahmen kein einfaches Feld ist. Die Aussage, dass mehr Frauen in die Politik gehen sollen, ist oft eine schnelle, sozial erwünschte Äußerung. Die Strukturen und die Kultur des Systems sind jedoch oft eine Hürde.
365 Sherpas: Warum haben Sie sich entschieden, in die Politik zu wechseln und das Amt einer Ministerin anzustreben? Was hat Sie gereizt?
Karmasin: Ich wollte mich für ein offeneres Familienbild, mehr Entscheidungsspielraum und weniger Stereotype für Familien und Frauen einsetzen. Und das ist gelungen – wir haben ein zeitgemäßes, offenes Familienbild geschaffen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und das Bewusstsein für Familien in der Wirtschaft steigern können. Mir war es auch ein Anliegen zu zeigen, dass es möglich ist, als Unternehmerin aus der Privatwirtschaft eine bestimmte Zeit politisch mitzugestalten und dann wieder zurückzukehren.
365 Sherpas: In der Öffentlichkeit wurde Ihnen vorgeworfen, dass Sie als Quereinsteigerin zu wenig politische Erfahrung haben. Aber ist nicht eben dieser frische Wind notwendig, um Politik zu beleben, oder brauchen wir die Berechenbarkeit von Berufspolitikern?
Karmasin: Es braucht eine gute Mischung aus beidem: politikerfahrene Menschen und jene, die Expertise von außen einbringen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass ihre Interessen von der Politik kompetent vertreten werden. Dafür braucht es Charaktere aus unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Erfahrungen und Know-how. Der Blick von außen ist aber jedenfalls wichtig für die erfolgreiche politische Arbeit.
365 Sherpas: Sie erklärten zu Ihrem Abschied aus der Politik: „Politik hat eigene Spielregeln“. Wenn Sie nun nach vier Jahren eine Bilanz ziehen: Was hat Sie am meisten überrascht und wo wurden Ihre Erwartungen enttäuscht?
Karmasin: Ich denke, eine große Veränderung war die ständige Beobachtung durch die Medien. Das war eine Umstellung für mich persönlich, aber auch für meine Familie. Ebenso ungewohnt waren die kurzfristigen Entscheidungen unter Medienbeobachtung. Ich habe meine Zeit in der österreichischen Politik aber insgesamt als große Bereicherung empfunden und würde auch andere zu diesem Schritt ermutigen.
365 Sherpas: Sie haben jahrelang Ihre eigene Agentur geleitet, bevor Sie zur Ministerin für Familien und Jugend ernannt wurden. Wie unterscheiden sich diese Spitzenpositionen?
Karmasin: Politik und Privatwirtschaft sind nur schwer miteinander zu vergleichen, das sind zwei unterschiedliche Systeme. Der größte Unterschied ist, dass man als Unternehmer lösungsorientiert und mit einem wirtschaftlichen Blick agiert. Auch die Entscheidungsfindung gestaltet sich anders: Als Unternehmer handelt man autonom und eigenverantwortlich, das ist in der Politik nicht so. Im politischen Alltag geht vieles langsamer, weil ein Konsens zwischen den verschiedensten Gruppen und Akteuren gefunden werden muss.
365 Sherpas: In der Privatwirtschaft beträgt der Frauenanteil in Aufsichtsräten aktuell nur 18 Prozent. Sie forderten als Ministerin bereits 2014 eine Flexi-Quote, um den Frauen-Anteil in Führungspositionen zu erhöhen. Was muss sich ändern?
Karmasin: Es ist mir ein besonderes Anliegen, mich für die Bedürfnisse und Anliegen von Frauen in der Wirtschaft und in Führungspositionen stark zu machen. Denn gerade aus der Wirtschaft wissen wir, dass gemischtgeschlechtliche Teams erfolgreicher sind und sich mehrere Perspektiven besser auf das Gesamtergebnis auswirken.
Nach meiner Rückkehr aus der Politik werde ich mich verstärkt für Frauen und Unternehmerinnen einsetzen. Aber nicht nur Frauen und Männer sind gefordert, auch die Unternehmen: Durch ein familienfreundliches Arbeitsumfeld können sie sich als attraktiver Arbeitgeber profilieren und den Mitarbeitern die leichtere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Wichtige Maßnahmen hierfür sind beispielsweise flexible Arbeitszeitmodelle und Rückkehrmodelle aus der Karenz sowie die Förderung der Väterkarenz.
365 Sherpas: Es gibt verschiedene Argumentationen, warum Frauen so selten in Spitzen von Politik und Unternehmen vertreten sind. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Karmasin: Die Frauenquote in Führungsfunktionen und Aufsichtsräten wächst zwar, aber zu langsam. Die Ursachen liegen in vielen traditionellen Rollenstereotypen in Bezug auf Ausbildung, Karriere, Familie und Lebenszielen. Junge Mädchen entscheiden sich noch zu stark für traditionelle Berufe und Ausbildungen, während die Zukunftsbranchen Technik und Digitales von Männern besetzt werden. In den Unternehmen wird noch zu wenig Fokus auf Familienfreundlichkeit und Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelegt. Damit müssen sich Männer und Frauen nicht zwischen Karriere und Beruf entscheiden, sondern können beides in ihrem Leben vereinbaren. Die gesetzliche Quote für Aufsichtsrätinnen wird in Österreich zumindest auf dieser Ebene eine Verbesserung bewirken.
365 Sherpas: Frau Karmasin, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte Antonia Meyer.
Sophie Karmasin war nach ihrem Studium (BWL und Psychologie) bei Henkel tätig. Anschließend übernahm sie die Leitung des Instituts für Motivforschung und wurde 2011 geschäftsführende Gesellschafterin der Karmasin Motivforschung und des österreichischen Gallup Instituts. Seit 2013 ist sie österreichische Bundesministerin für Familien und Jugend.
Das Interview ist im Dezember 2017 in unserem Jahresbrief „Haltung“ erschienen, Thema der Ausgabe ist „Neue Berechenbarkeit“.
Bild: David Wischerhoff