Robin Alexander ist stellvertretender Chefredakteur bei der „Welt“ und einer der einflussreichsten Journalisten im politischen Berlin. Keinem Journalisten folgen mehr Bundestagsabgeordnete auf Twitter, seine Bücher wurden Bestseller. Wir sprechen mit ihm über das Fortschrittsversprechen der neuen Bundesregierung, die Neuaufstellung der CDU und die Rolle des Journalismus.

Die neue Bundesregierung hat sich offensiv „Fortschritt“ vorgenommen. Wie sehen Sie dieses Versprechen?

Man muss sich anschauen, was für eine Art Fortschritt es sein soll. Die drei Koalitionspartner haben im Wahlkampf sehr unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Die Grünen mit dem Fokus aufs Klima waren dabei am einseitigsten. Die FDP hat auf Digitalisierung und Bürokratieabbau gesetzt, die SPD auf das Thema Respekt. Ein interessantes Thema, weil es weggeht von der klassischen sozialdemokratischen Erzählung.

Wie passen die drei Ansätze mit Blick auf Fortschritt zusammen?

Die Koalition versucht, eine schlüssige Fortschrittserzählung zu finden. Das gelingt bei der SPD recht gut. Sie kümmert sich um Mindestlohn und Sozialpolitik. Bei der FDP kann ich den großen Sprung in Richtung Digitalisierung noch nicht erkennen. Deshalb hat sich die Partei aufs Verhindern verlegt – Stichwort: keine Steuererhöhungen. Und die Grünen müssen jetzt zeigen, ob sie die CO2-Reduzierung organisieren können.

Schwenken wir zu Bundeskanzler Olaf Scholz: Wie beurteilen Sie seinen Regierungsstil?

Bislang war es so, dass die Wähler immer den Wechsel gewählt haben. Nach 16 Jahren Helmut Kohl kam Gerhard Schröder. Schröder sah anders aus, hatte einen anderen Stil, hat anders Politik gemacht. Mit Olaf Scholz hat der Kandidat gewonnen, der für Kontinuität steht, obwohl er nicht von der bisherigen Kanzlerinnenpartei kommt. Scholz hat gesagt: „Ich war Merkels Arbeitsminister, ich war ihr Vizekanzler, ich rede wie sie, ich habe ihre Gestik.“ Das gipfelte darin, dass er mit der Raute-Geste auf einem Magazincover zu sehen war. Die Wähler haben nicht den Wechsel, sondern ein Kontinuitätsversprechen gewählt.

Liefert Scholz in diesem Punkt ab?

Mit seinem langen Zögern, bevor er in Debatten einsteigt, lehnt er sich an Merkel an. Er hat eine konzentrierte Kommunikation, indem er immer wieder dasselbe sagt. Damit radikalisiert er Merkels Stil. Er sagt aber noch weniger als sie, spricht noch mehr auf Basis vorbereiteter Statements. Die Methode Merkel war lange erfolgreich, ist aber an ihre Grenzen gekommen.

Wie nehmen Sie Bundeskanzler Olaf Scholz seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wahr?

Olaf Scholz hat nach langem Zögern in letzter möglicher Minute die Kurve gekriegt: Sein Plazet der Waffenlieferungen an die Ukraine hat Deutschland vor der Isolation im westlichen Bündnis bewahrt. Sein Sondervermögen für die Bundeswehr geht endlich ein strukturelles Problem der deutschen Politik an. Aber die Russland- Ukraine-Krise hat erst begonnen und wird Scholz noch vor gewaltige Herausforderungen stellen.

Die Wähler haben nicht den Wechsel, sondern ein Kontinuitätsversprechen gewählt.

Wie kommen Annalena Baerbock und Robert Habeck raus aus der Doppelspitzenrolle und rein ins Regieren?

Annalena Baerbock und Robert Habeck haben es geschafft, dass die Grünen den Lagerausgleich Linke vs. Realos hinter sich gelassen haben. Sie haben gesagt: Wir wollen es gemeinsam schaffen. Sie hatten einen Sprecher, ein Büro. Diese zunächst mal grünenuntypische kollektive Führung ist aber an ihr Ende gekommen, als sie entscheiden mussten, wer Kanzlerkandidat wird. Das schlagende Argument von Baerbock war, dass sie eine Frau ist. Erst später fiel ihnen auf, dass es der breiten Bevölkerung überhaupt nicht so wichtig ist, ob da ein Mann oder eine Frau vorne steht. Viele Grüne sagen im Nachhinein: Wir hätten den Kanzler stellen können, wenn wir über unseren Schatten gesprungen wären.

Wie ist die Lage der CDU nach der Wahlniederlage?

Anders als die Grünen hat die Partei mithilfe externer Experten den Wahlkampf aufgearbeitet. Das geht so weit, dass es im Abschlussbericht den Impuls gibt, den Parteinamen zu ändern. Auch wenn das nie passieren wird: Radikaler geht es nicht! Zugespitzt formuliert, war die Union zu Angela Merkels Zeiten eine untergeordnete Behörde des Kanzleramts. Eine Debatte fand nicht statt. Die Union muss jetzt wieder eigene Begriffe entwickeln.

Wofür steht Merz?

In den 90er-Jahren stand er für Fortschritt, böse formuliert neoliberalen Fortschritt. Radikale Marktorientierung, Fitmachen eines festgefahrenen Sozialstaats. Für Unionsverhältnisse ein krasses Reformprogramm. Die Frage wird jetzt sein, ob er daran anknüpfen kann oder ob er eine neue Erzählung findet. Die Union hat eigentlich einen konservativen Fortschrittsbegriff. Sie will gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen so verlangsamen, dass sie für die Menschen erträglich werden. Das ist anstrengend, aber klug. Vor allem in dynamischen und disruptiven Zeiten. Man muss kommunizieren: Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können sie so gestalten, dass ihr damit klarkommt.

Wie wird sich das Verhältnis zwischen CDU und CSU entwickeln?

Die Konstruktion von CDU/CSU ist einmalig und wahnsinnig erfolgreich. Man verbreitert damit das Spektrum. Ein Konservativer in Schleswig-Holstein, der sich von der CDU-Rhetorik nicht abgeholt fühlte, weil ihm das nicht deftig genug war, hatte dann eben auch Franz-Josef Strauß. Einem liberalen Katholiken in Bayern war die Rhetorik von Strauß womöglich zuwider. Für den gab es dann Rita Süssmuth. Das hat lange sehr gut funktioniert, weil sie dieselbe Message in zwei Tonlagen vortragen konnten. Das ist wie ein Band, das ständig auf Spannung ist. Zwischen Merkel und Seehofer ist es wegen der Flüchtlingsfrage gerissen. Plötzlich fängt Söder nun mit den Bäumen und Bienen an und stellt die CSU links von der CDU auf.

Viele Grüne sagen im Nachhinein: Wir hätten den Kanzler stellen können, wenn wir über unseren Schatten gesprungen wären.

Wie viel Spannung nehmen Sie in der Gesellschaft gerade wahr?

Unsere Gesellschaft zerfällt, weil ihre Kommunikationsstränge zerfallen. Früher haben alle Leute Nachrichten geguckt oder die Zeitung gelesen. Dies wird verstärkt, wenn Gesellschaften unter materiellen Druck geraten. Das konnte man zum Beispiel in Griechenland während der Eurokrise beobachten: Plötzlich wurde das Land linkspopulistisch regiert. Andere Gesellschaften zerbrechen in der Mitte. Man kann über die Ampel sagen, was man will, aber die sind weder links- noch rechtsradikal. Bei uns sind noch Regierungswechsel in der Mitte möglich – das ist eine wahnsinnige Qualität. Vielleicht ist die deutsche Gesellschaft stabiler, als wir denken.

Wie stehen Sie als Journalist zum Thema Gendern?

Der Soziologe Armin Nassehi sagt, dass wir eine Gesellschaft sind, die vieles neu aushandelt. Das ist wahnsinnig produktiv, aber auch wahnsinnig anstrengend. Es muss daher Dinge geben, die sich nicht verändern. Er nennt diese Dinge latent. Das Aufbrechen von Sprache ist ein totaler Latenzverlust. Durch diese Genderdebatte haben die Menschen das Gefühl, dass diese Gewissheit wackelt. Das stresst die Leute, weil sie mit den anderen Prozessen beschäftigt sind, und das glaube ich auch und deswegen werde ich das niemals tun. Ich möchte meine Leser nicht stressen, sondern klüger machen.

Und wie reagieren Sie, wenn Menschen sich durch Ihre Sprache ausgeschlossen fühlen?

Ich bin Journalist und kein Erzieher. Wer gendern möchte, soll das machen, aber ich werde das nicht tun, solange mich niemand zwingt. Meine Mutter spricht nicht so, meine Frau spricht nicht so, die Whats- App-Nachrichten meiner Tochter sind nicht so formuliert. Es gibt das nur im Offiziellen, mein Finanzamt schreibt mich so an, Politiker reden so mit mir, es kommt von oben.

Welche Rolle spielt Twitter in Deutschland?

Debatten über oberflächliche Schwächen funktionieren bei Twitter gut. Das sind keine Debatten über Bilanzfälschungen, weil das zu kompliziert ist. Es geht dann darum, dass sich jemand im Sprachgebrauch vertan hat oder eine zu kurze Hose trägt. Die Leute holen sich den Kick daraus, dass sie auf jemanden zeigen können, der ihnen moralisch unterlegen ist.

Wofür nutzen Sie Twitter?

Es ist ein Vertriebskanal. Das Grundproblem des Journalismus ist heute, dass wir die Gatekeeper-Funktion nicht mehr haben. Das ist für uns fatal. Ich profitiere aber auch von diesen Kanälen, weil ich meine Follower direkt erreichen kann. Wenn eine CDU-Bundesvorstandssitzung läuft, die ich in Echtzeit mitbekomme, kann ich eine interessierte Öffentlichkeit im politischen Berlin über Twitter direkt damit bespielen. Ich habe die Möglichkeit, die gleiche Patrone mehrmals zu verschießen: Wenn ich eine exklusive Information habe, kann ich sie auf Twitter kommunizieren, stelle sie auf unsere Website, schreibe darüber in unserer Tageszeitung, spreche darüber im Podcast, gehe damit ins Fernsehen – und manchmal findet sie noch den Weg in ein Buch von mir.

Ich bin Journalist und kein Erzieher. Wer gendern möchte, soll das machen, aber ich werde das nicht tun, solange mich niemand zwingt.

War es einfacher, als Sie die Information nur einmal in der gedruckten Zeitung verwenden konnten?

Ich habe bei der taz gelernt. Die taz hatte immer um 17 Uhr Redaktionsschluss. Danach tranken wir ein Weizen im Sale e Tabachi und freuten uns diebisch über die Artikel, die gerade gedruckt wurden und irgendjemanden ärgern würden. Erst am nächsten Morgen war dann Konferenz und es ging weiter. Das war prima. Aber es ist vorbei.

Wie werden sich die Gesellschaft und die Digitalisierung weiterentwickeln?

Es heißt immer, dass viel Wissen in die Gesellschaft kam, als der Buchdruck aufkam. Tatsächlich hat das die Gesellschaft aber auch wahnsinnig unruhig gemacht. Nach dem Buchdruck haben die Hexenverfolgungen dramatisch zugenommen, weil Pamphlete im Umlauf waren. Dieser Buchdruck hat die Leute überfordert, weil sie plötzlich selbst entscheiden mussten. Nun ist die Frage, ob wir die digitale Revolution ähnlich betrachten müssen. Sind wir schon am Ende der Aufregung oder geht sie jetzt erst richtig los? In der Geschichte haben die Menschen irgendwann verstanden, dass nicht jedes Flugblatt die Wahrheit ist.

Das Gespräch führten Verena Gathmann und Stephan Kittelmann.

Robin Alexander studierte Geschichte und Journalistik an der Universität Leipzig. Im Anschluss absolvierte er ein Volontariat bei der taz in Berlin. Seit 2008 schreibt er für die „Welt“ und „Welt am Sonntag“ und ist dort unter anderem für die Berichterstattung rund um das Kanzleramt tätig. 2019 wurde er stellvertretender Chefredakteur der „Welt“. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er unter anderem durch sein Buch „Die Getriebenen“ bekannt, in dem er die politischen Entscheidungen und Hintergründe im Herbst 2015 dokumentiert. 2021 erschien sein Buch „Machtverfall“, in dem er die Auseinandersetzung um die Nachfolge von Angela Merkel beleuchtet.