Heute hat der Bundestag den größten Nachtragshaushalt seiner Geschichte beschlossen. Das Gesamtvolumen der Kredite, Garantien und Rekapitalisierungen beträgt rund 600 Milliarden Euro. Bis zuletzt haben Regierung, Koalition und Opposition im Hintergrund an Details gefeilt.

Der Preis der Größe heißt Verantwortung.
— Winston Churchill

Ich stelle eine These auf: Wenn sich Parlament und Regierung der Größe ihrer 600-Milliarden-Euro-Verantwortung bewusst sind, werden wir in den kommenden Monaten über kaum ein anderes politisches Thema als COVID-19 und seine Auswirkungen sprechen.

In den nächsten Wochen und Monaten werden alle Entscheidungsträger damit beschäftigt sein, die Krise zu managen, in der wir alle gemeinsam stecken. Man wird sich ständig damit auseinandersetzen müssen, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichen, wo Spielraum für ein Nachsteuern oder Umsteuern ist. Es wird eine Vielzahl von Detailfragen und Interessen seitens der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft geben, mit denen es sich auseinanderzusetzen gilt. Und das im Gegensatz zum klassischen, eher langfristig angelegten Politikbetrieb, in einem eher agilen Arbeits- und Entscheidungsmodus. Die Situation erfordert es. Das bedeutet für Public Affairs Verantwortliche sich intensiver mit wechselnden Prozessen auseinanderzusetzen, als sie es üblicherweise müssten.

An anderer Stelle werden sich Politische Entscheider damit beschäftigen, wie das gesellschaftliche Leben nach und nach zur Normalität zurückfinden kann und vor allem in welchen zeitlichen Abfolgen es das überhaupt darf. In ihren Wahlkreisen werden Abgeordnete die Fragen ihrer WählerInnen beantworten müssen. Findet das Feuerwehrfest im Juni statt? Kann der Kapellenverein sein Jubiläum im August feiern? Was ist mit Schützen- und Stadtfesten, wann macht das Hallenbad wieder auf? Warum dauert das alles so lange? Die gesellschaftliche Akzeptanz für den Verzicht wird schwinden, je eingreifender er wird und je länger er dauert. Das wird den Fokus politischer Stakeholder auf sich ziehen. Eigene Themen zu setzen, die nicht zur Lösung der akuten Fragestellungen vor Ort beitragen, wird dann zunehmend herausfordernder.

Man löst keine Probleme, indem man sie auf Eis legt.
— Winston Churchill

Prognosen zu wagen, wenn alles auf Sicht fährt, ist schwierig. Meine zweite These lautet trotzdem: Der richtige Zeitpunkt, sich auf die Zeit und die politischen Debatten nach COVID-19 vorzubereiten ist genau jetzt.

Auch wenn es schwer vorstellbar ist, es wird eine Zeit nach COVID-19 geben. Viele der Themen, die diese Große Koalition bis zum Sommer 2021 noch umsetzen wollte, liegen von der GWB-Novelle bis zum Kreislaufwirtschaftsgesetz gerade auf Eis. Jedenfalls vordergründig. Im Hintergrund werden die Themen demnächst weitergedreht, diskutiert, Vorschläge und Kompromisse erarbeitet. Viele der laufenden und wahrscheinlich alle der kommenden Themen werden anhand der Corona-Auswirkungen neu bewertet und zwar vor dem Hintergrund industriepolitischer und arbeitsmarktpolitischer deutsch-europäischer Interessen.

Wenn in einigen Tagen das Krisenmanagement zum Alltag geworden ist und sich eine gewisse Routine eingestellt hat, sollten sich UnternehmenslenkerInnen und Public Affairs Verantwortliche mit der Zeit nach COVID-19 beschäftigen. Wie passen Themen, Interessen und Argumente zur aktuellen Situation? Haben sich gar ganze Prioritäten verändert und welche Themen müssen mit angemessenem Aufwand getrieben werden?

Diese Fragen gilt es jetzt zu beantworten und nicht erst, wenn Ministerien und Bundestag zum Alltag zurückgefunden haben.

Stets findet Überraschung statt. Da, wo man’s nicht erwartet hat.
— Wilhelm Busch

Die dritte These lautet: Wir haben erst in den vergangenen Tagen verstanden, was Digital Public Affairs wirklich bedeutet.

Die Verlängerung der Public Affairs Arbeit in den digitalen Raum – „Themen und Positionen digital auffindbar machen, Social Media Kanäle bespielen“ – das war zwar alles richtig und es ist nach wie vor notwendig, aber es fühlt sich wie gestern an. Eigentlich wie vorgestern. Heute muss durch social distancing und Ausgangssperren alles digital werden. Videokonferenzen gehören gerade zum Alltag, nicht nur für InteressenvertreterInnen sondern auch für Abgeordnete, die Büros und Fraktionsmitarbeiter. Berührungsängste mit neuen Technologien wurden über Nacht genommen und das Beschaffungswesen des Deutschen Bundestages damit erst einmal ausgehebelt.

Es wird die Art, wie wir PA-Professionals unsere Termine, Veranstaltungen und Gespräche konzipieren und gestalten können, verändern und tut es bereits jetzt. Es verändert den Stil wie wir mit Stakeholdern arbeiten müssen und wie wir unsere Teams digital und dezentral organisieren. Diese Herausforderungen erfordern eine Menge Experimentierfreude und Pragmatismus, trial and error. Und dezidiert Mut. Auch das ist im besten Sinne Digital Public Affairs. Hier wird es keinen Zustand „vor Corona” mehr geben. Wir werden es hoffentlich als neue Normalität erleben, was die Krise positiv befördert hat und unseren Public Affairs Werkzeugkasten neu sortieren müssen.