Es ist ein beunruhigendes Kennzeichen unserer Zeit, dass sich politische und gesellschaftliche Diskurse radikalisieren. Dass Menschen, die öffentlich ihre Meinung sagen, immer wieder zu Opfern von öffentlichen Anfeindungen und Bedrohungen werden. Das gilt nicht nur, aber eben in ganz besonderer Weise für die kritische Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen und rechtsradikalen Gruppen und Tendenzen. Wir finden, dass es diese kritischen Auseinandersetzungen trotzdem, dass es sie gerade jetzt braucht. Wir finden aber auch, dass niemand sehenden Auges zur Zielscheibe unsachlicher Kritik oder persönlicher Anfeindungen werden sollte.

Daher verzichten wir bei dem folgenden, von einer Kollegin verfassten Text auf den Namen der Autorin und publizieren ihn als 365 Sherpas.   

 

Eine Lautstärke von 120 Dezibel liegt an der menschlichen Schmerzgrenze. Das ist in etwa die Lautstärke eines Düsenflugzeugs, eines Presslufthammers oder eines Taschenalarms. Letzterer ist ein Alarm, der durch seine Lautstärke Aufmerksamkeit erregen soll.

Aufmerksamkeit erregen möchte auch die Kampagne #120db, die Anfang des Jahres von der Identitären Bewegung initiiert wurde. Sie schlägt eine Brücke zwischen aktuell prägenden Themen und verknüpft die #MeToo-Debatte mit der europäischen Flüchtlingspolitik.

Auf der Webseite der Kampagne ist ein Video zu sehen, in dem junge Frauen zu melancholischer Musik die Zuschauenden direkt ansprechen. Es werden Namen von Frauen genannt, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Die Gemeinsamkeit der Gewalttaten soll sein, dass die Täter einen Migrationshintergrund hatten. Sowohl die Zuschauenden als auch der Staat werden angeklagt, Frauen aufgrund ihres Handelns bzw. ihrer Politik nicht geschützt zu haben. Das Video nutzt Effekte, die der Journalist Julian Dörr zusammenfasst als „Personalisierung. Emotionalisierung. Lehrbuch für Aktivismus, Lektion eins, Seite eins.

Der Aktivismus der Kampagne geht aber auch über das Netz hinaus. Ein Beispiel ist die Störaktion am Rande der diesjährigen Berlinale. Dabei kaperten Aktivistinnen kurzzeitig die Bühne der Veranstaltung „Kultur will Wandel“. Sie lösten Taschenalarme aus, hielten ein Transparent mit der Aufschrift „Die Stimme der vergessenen Frauen #120db“ hoch und warfen Flyer ins Publikum. Teile des Publikums begegneten der Aktion mit „Nazis raus“-Rufen.

Doch wer verbirgt sich hinter diesen Aktionen? Die Frauen, die in dem Video sprechen, tauchen auch auf der Webseite auf. Unter dem Titel „Wir sind viele und werden immer mehr“ erscheinen sie mit Vornamen und Bild. In dem Video beschreibt eine der Aktivistinnen die Kampagne als eine Bewegung „von Frauen, für Frauen“. Dahinter verbirgt sich die völkisch orientierte Identitäre Bewegung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und Berührungspunkte mit der AfD hat. Aktivistinnen wie „Alina“ und „Melanie“ sind Teil der Bewegung. Auch für den Online-Auftritt der Kampagne ist laut Frankfurter Rundschau ein Mitglied des Bundesvorstandes der Identitären Bewegung verantwortlich, die nach Schätzungen des Verfassungsschutzes etwa 400 Mitglieder hat.

Im Unterschied zu anderen Bewegungen weist die Identitäre Bewegung laut der Genderforscherin Prof. Dr. Paula Irene-Villa „eine andere ästhetische Qualität“ auf, die eine bestimmte Art von traditionellem Frauenbild transportiert. „Es propagiert eine eindeutige Rollenverteilung: Der Mann muss stark sein und die Frau ist für die Liebe, das Schöne, das Gute zuständig.“ Laut der Rechtsextremismusexpertin Prof. Dr. Heike Radvan gehört zu den Hauptaufgaben von Frauen innerhalb der Bewegung das Kümmern um das Fortbestehen der „Volksgemeinschaft“. In Bezug auf die Wahrnehmung von Frauen erläutert sie: „Frauen gelten stereotypisch als ‚friedlich’ und ‚unpolitisch’. Die Identitären nutzen das, um ihrer Bewegung ein unverfängliches Bild zu geben.“ Sie präsentiert sich als anschlussfähige Jugendbewegung, die ähnliche Protestformen wie Umweltschützer nutzt, so z. B. die Besetzung des Brandenburger Tors. Hier reiht sich die Störaktion von #120db am Rande der Berlinale nahtlos ein. Dabei spielt sich sowohl die als völkisch, rassistisch verortete Kampagne als auch die Identitäre Bewegung oberflächlich als Beschützer von Frauen, als Beschützer der Gleichberechtigung auf.

Prof. Dr. Villa weist auf eine rechte Form des Feminismus hin, die sich auf eine andere Form der „Ich-Stärkung“ konzentriert. „So etwas wie Heimatliebe, Mutterstolz, Marmeladeeinkochen, die eigene Gemeinschaft durch die Abwertung anderer, die Konzentration auf die Familie – für manche ist genau das Feminismus.“ In dem Interview mit der SZ vom 12. Februar diesen Jahres erläutert sie, dass diese Formen bereits in Strömungen der ersten Frauenbewegungen im 19. Jahrhundert zu erkennen gewesen seien.

Gleichberechtigung ist ein zentrales Element des Feminismus. Die Kampagne #120db nutzt diesen Begriff für rassistische Ziele. Gleichberechtigung im eigentlichen Sinne nimmt keine Unterscheidung nach Herkunft oder Religion vor. „Die Rechten hingegen kämpfen für den Schutz der deutschen, der europäischen Frau. Sie ziehen Grenzen um Nationen und Kulturen. Weil die Bedrohung in ihrem Weltbild nur von außen kommen kann. Die Gewalt weißer Männer an weißen Frauen wird ausgeblendet.

Das Fatale an der Bewegung ist, dass sie Angst macht. Es ist gewollt, dass der Eindruck entsteht, dass man selbst oder eine Person im eigenen Umfeld das nächste Opfer von Gewalt sein könnte. Die Flüchtlingspolitik wird instrumentalisiert. Es wird außer Acht gelassen, dass die meisten Täter, die sexuelle Gewalt verüben, aus dem Umfeld der Opfer stammen.

Dass Frauen das öffentliche Gesicht dieser Kampagne sind und sie vermeintlich eher als „unpolitisch“ und „friedlich“ gelten, darf nicht dazu führen, dass diese Bewegung als weniger gefährlich wahrgenommen wird. Ob es wirklich so ist, dass die Kampagne von Männern der Identitären Bewegung konzeptioniert wurde und Frauen „sehr gerne“ mitmachen, wie Prof. Esther Lehnert des Forschungsnetzwerks Frauen und Rechtsextremismus meint, kann man in Frage stellen. Aber egal welches Geschlecht oder welche Seite sich dahinter stellt: Es ist ein Angriff auf Toleranz und Freiheit. Der vermeintliche Schutz von Frauen ist ein Mittel zum Zweck. Es geht dabei nicht um Gleichberechtigung, sondern am Ende um Stimmungsmache gegenüber Geflüchteten. Die Erkenntnis, dass es Gruppierungen gibt, die gezielt Ängste und Hass schüren, ist schmerzhaft. Deswegen ist es umso wichtiger, rationale Argumente gegen das Schüren von Ängsten anzubringen. Zu widersprechen. Sensibilisiert zu sein. Schließlich darf ein Klima der Angst in unserer Gesellschaft keinen Raum einnehmen.